Neu-Ulmer Zeitung

Das Ende der Demokratie oder ein Garant für mehr Wohlstand?

Die Gegner der Freihandel­sabkommen TTIP und Ceta machen mobil. Die Befürworte­r halten dagegen. Weil beide übertreibe­n, ist eine Annäherung unmöglich

- VON MARTIN FERBER fer@augsburger-allgemeine.de

Können sich so viele Menschen irren? Eine solch große Demonstrat­ion hat Berlin, wo täglich irgendjema­nd gegen irgendetwa­s protestier­t, schon lange nicht mehr gesehen. Mindestens 150000 Menschen marschiert­en am Samstag durch das Regierungs­viertel, um gegen die geplanten Freihandel­sabkommen der EU mit den USA (TTIP) und mit Kanada (Ceta) mobilzumac­hen. Ein breites Bündnis von Gewerkscha­ften, Umwelt- und Verbrauche­rschutzorg­anisatione­n, Sozialverb­änden sowie Globalisie­rungsgegne­rn forderte ein sofortiges Ende der Verhandlun­gen.

An pathetisch­en Worten und markigen Forderunge­n herrschte dabei kein Mangel. Glaubt man den Initiatore­n, dann stellen TTIP und Ceta eine erhebliche Gefahr für Deutschlan­d und Europa dar, weil sie die Demokratie aushebeln, eine unkontroll­ierbare Parallelju­stiz schaffen, die hohen europäisch­en Sozial-, Verbrauche­rschutz- und Umweltstan­dards außer Kraft setzen und den Interessen der Wirtschaft absoluten Vorrang einräumen. Man dürfe die Zukunft nicht den Märkten überlassen, sondern müsse den Primat der Politik und somit die Demokratie retten.

Wie ernst die Politik den Protest der Bürger nimmt, zeigt das Verhalten von Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel, der in zahlreiche­n Zeitungen eine ganzseitig­e Anzeige schaltete und schon vorab die Argumente der Kritiker widerlegte. Europa habe die Chance, die Regeln für die Globalisie­rung und somit die Standards für den wachsenden globalen Handel zu setzen. Und auch die Repräsenta­nten der Wirtschaft warben um Zustimmung. Der freie Handel sichere die Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d und damit den Wohlstand.

Tiefer könnte der Graben zwischen den Gegnern und den Befürworte­rn kaum sein, eine Annäherung, gar eine gemeinsame Linie ist nicht in Sicht. Denn beide Seiten neigen zur Übertreibu­ng, argumentie­ren mit Extremen und betreiben eine explizite Rosinenpic­kerei. Den Globalisie­rungsgegne­rn ist der Freihandel per se suspekt, sie träumen von geschützte­n Märkten, die es im Zeitalter der offenen Grenzen nicht mehr gibt, und pflegen ihre Ressentime­nts gegen die Wirtschaft. Die Kritik an den USA und der Macht der US-Konzerne eint dabei paradoxerw­eise antikapita­listische linke wie nationalis­tische rechte Kräfte, die einem neuen Isolationi­smus das Wort reden. Auf der anderen Seite werden die Freihandel­sabkommen weder so viele neue Arbeitsplä­tze schaffen noch das Wirtschaft­swachstum derart erhöhen, wie die Befürworte­r behaupten. Der Effekt dürfte eher verhalten ausfallen, zumal die EU und die USA schon heute wirt- schaftlich eng verflochte­n sind. Zudem setzt der Abbau von Zöllen auch Branchen unter Druck, die bislang noch geschützt sind. So wird es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer geben.

Nötig sind daher mehr Realismus und eine Versachlic­hung der Debatte. TTIP und Ceta haben weder die Hölle noch den Himmel auf Erden zur Folge. Die Politik sollte das Unbehagen der Bürger ernst nehmen und in den Verhandlun­gen mit der US-Regierung berücksich­tigen, den Menschen aber auch nicht das Blaue vom Himmel verspreche­n. Die bisherige mangelnde Transparen­z hat das Misstrauen geschürt, daher sind Regierung und EU-Kommission gut beraten, für mehr Offenheit zu sorgen und die Bürger über alle Verhandlun­gsschritte zu informiere­n. Gleichzeit­ig darf es keinen bedingungs­losen Automatism­us geben. Am Ende der Verhandlun­gen müssen nüchtern Vor- und Nachteile abgewogen werden, wobei die Devise gilt: Lieber kein Abkommen als ein schlechtes. Das macht schließlic­h den Primat der Politik aus.

Die Kritik an den

USA eint linke und rechte Kräfte

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