Die Türkei im Sog des Syrien-Konflikts
Die Sprengsätze bei dem Anschlag in Ankara bestanden aus TNT mit Metallkugeln. So wie bei einem Selbstmord-Attentat in der Grenzstadt Suruç. Warum beide Taten dem Islamischen Staat zugeschrieben werden und die Wut sich gegen die Regierung richtet
Ankara Junge Leute halten sich an den Händen und tanzen den Halay, den traditionellen türkischen Ringtanz. Die Sonne scheint, die türkische Hauptstadt Ankara bereitet sich an diesem warmen Samstagvormittag auf eine Großdemonstration mehrerer Gewerkschaften, Oppositionsparteien und Kurdengruppen vor, bei der ein Ende der Kämpfe zwischen dem türkischen Staat und den PKK-Kurdenrebellen gefordert werden soll. Die Stimmung vor dem Bahnhof von Ankara ist heiter, manche Demonstranten haben ihre Kinder mitgebracht. Plötzlich schießt ein paar Meter hinter den tanzenden Menschen eine gewaltige Feuersäule in die Luft, dem gewaltigen Knall der Explosion folgt nach wenigen Sekunden ein zweiter.
Mitten in der Menschenmenge sind zwei Sprengladungen explodiert; mindestens 95 Menschen sterben, mehr als 500 werden verletzt. Es ist der schlimmste Terroranschlag der türkischen Geschichte. Die Bomben der mutmaßlichen Selbstmordattentäter waren offenbar mit Metallkugeln versehen, um möglichst viele Menschen zu töten.
Der Journalist Faruk Bildirici von der Zeitung Hürriyet unterhält sich vor dem Bahnhof mit einigen Kollegen und wirft sich bei der Explosion zu Boden. „Als wir wieder auf die Beine kamen, sahen wir Leichenteile, die bis zum Bahnhofsgebäude geschleudert worden waren“, berichtet er später. „Abgetrennte Arme und Beine lagen auf der Straße, Menschen schrien, ein Mann trug ein schwer verletztes Mädchen weg.“So endet die Demonstration, noch bevor sie begonnen hat.
Im Chaos nach den Explosionen greifen einige Demonstranten einen Polizeiwagen an, weil sie annehmen, dass der Staat seine Hände im Spiel hat. Einige Minister, die den Tatort besuchen wollen, werden von einer wütenden Menge wieder verjagt. Selahattin Demirtas, der Chef der legalen Kurdenpartei HDP, spricht von einem „Massaker“. Die Bomben wurden an der Stelle gezündet, an der sich die HDP-Abordnung zur Kundgebung versammeln sollte.
Das Blutbad gleicht damit dem Anschlag von Suruç vom 20. Juli, bei dem ein türkischer Selbstmord- attentäter, der angeblich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angehörte, mehr als 30 linksgerichtete und kurdische Aktivisten tötete. Auch damals gaben kurdische Politiker und die PKK dem Staat eine Mitschuld. Die PKK nahm den Anschlag von Suruç zum Anlass, mit neuen Gewaltaktionen gegen die Sicherheitskräfte zu beginnen, die Regierung antwortete mit Luftangriffen auf PKK-Stellungen. Seitdem hat es im Kurdengebiet mehrere hundert Tote gegeben.
Nach Einschätzung von Beobachtern gibt es bei den Motiven für beide Anschläge – Suruç und Ankara – einen engen Zusammenhang mit der Lage in Nord-Syrien. Experten sehen die Stabilität der Türkei in Ge- fahr, weil der Syrien-Konflikt immer mehr auf das Land übergreift. Die türkische Regierung hatte den Anschlag von Suruç dem IS zugeschrieben, allerdings fehlen wegen einer Nachrichtensperre gesicherte Informationen über den Stand der Ermittlungen. Auch diesmal gelten die Dschihadisten als mögliche Hintermänner. Dafür hat die Polizei am Tag nach dem Blutbad in der Hauptstadt mehrere Anhaltspunkte.
Nach Augenzeugenberichten dirigierte ein bärtiger Mann mit einem Megafon am Samstag auf dem Bahnhofsvorplatz kurdische Aktivisten per Durchsage an jene Stelle, an der wenig später eine der beiden Bomben explodierte. Die Kurden glaubten offenbar, der Mann sei ein Ordner, doch er war möglicherweise ein Komplize der Selbstmordattentäter: Zeugen sagten laut Presseberichten, unmittelbar vor der Explosion sei der arabische Ruf „Allahu akbar“– Gott ist groß – zu hören gewesen.
Im Mittelpunkt des Interesses der Ermittler steht der 25-jährige Yunus Emre Alagöz aus dem nordosttürkischen Adiyaman. Alagöz sprengte sich möglicherweise nach dem Megafon-Aufruf des unbekannten Bärtigen mitten in der Menschenmenge in die Luft; die zweite Bombe wurde nach Medienberichten von einer Frau gezündet.
Alagöz ist der Bruder jenes Mannes, der am 20. Juli das Attentat in Suruç an der syrischen Grenze verübte. Die Brüder Alagöz sollen beim IS in Syrien den Bombenbau gelernt haben. Aus Ermittlerkreisen verlautete, die Sprengsätze – TNTSprengstoff mit Metallkugeln – gli- chen sich bei beiden Anschlägen. Weitere fünf potenzielle IS-Selbstmordattentäter sollen sich derzeit noch in der Türkei aufhalten und „auf Befehle warten“, wie die Zeitung Habertürk meldete. Schon in den Tagen vor der Katastrophe von Ankara kursierten bei Sicherheitsbehörden offenbar Warnungen vor möglichen Selbstmordattentätern.
Dies wiederum verstärkt die Kritik an den Behörden: Warum wurden die Veranstalter der Demo nicht gewarnt? „Ganz offensichtlich und ohne jede Diskussion liegen geheimdienstliche Mängel vor“, sagte Cevat Önes, ein früherer Vizechef des Geheimdienstes MIT, der Zeitung Zaman. Innenminister Selami Altinok lehnt dennoch einen Rücktritt ab. Es gebe keine erkennbaren Mängel bei den Sicherheitsbehörden, erklärt er – eine Bemerkung, die angesichts von fast 100 Toten für die Opposition wie purer Hohn wirkt.
Kritiker vermuten ohnehin, dass es um mehr geht als nur um Pannen beim MIT und der Polizei. Sie werfen dem Staat vor, in das Blutbad verwickelt gewesen zu sein, um die Kurden einzuschüchtern und Versuche zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonflikts zu torpedieren. „Der Staat ist ein Mörder“, riefen tausende Demonstranten, die am Samstagabend in Istanbul gegen die angebliche Mitschuld der Behörden auf die Straße gingen. Bei einer Trauerkundgebung am Sonntag in Ankara lieferten sich Polizisten und Demonstranten gewalttätige Auseinandersetzungen.
Kurdenpolitiker verstärkten unterdessen ihre Vorwürfe an die Be- hörden. HDP-Chef Selahattin Demirtas betonte, dass der türkische Sicherheitsapparat von jeder kleinen Protestaktion in Ankara wisse, aber das „Massaker“nicht verhindert habe. Demirtas sprach von 128 Todesopfern und rief die Türken auf, bei der Parlamentswahl am 1. November die Regierung abzustrafen.
Während die Opposition eine mögliche Mittäterschaft der Regierung diskutiert, zeigen sich Beobachter besorgt über die Tatsache, dass der IS offenbar stark genug ist, um mitten in der türkischen Hauptstadt zuzuschlagen. Der IS greife kurdische und linke Gruppen in der Türkei an, weil er diese als Ungläubige betrachte und weil er die Kur- den in Nord-Syrien schwächen wolle, sagte der Terrorexperte Nihat Ali Özcan unserer Zeitung. „Der IS hat in Ankara zugeschlagen, weil in den kommenden Tagen eine Offensive der USA und der Kurden bei Raqqa erwartet wird“, sagte Özcan, der bei der Denkfabrik Tepav in Ankara arbeitet. Raqqa am Euphrat ist die Hauptstadt des vom IS ausgerufenen „Kalifats“in Syrien. Im vergangenen Jahr erhielten die syrischen Kurden während der Belagerung der Stadt Kobane durch den IS viel Unterstützung von den Kurden in der Türkei. Dafür wolle der IS die Kurden nun „bestrafen“, so Özcan.
Die brutale Gewalt, das Fehlen eines demokratischen Konsenses in Ankara und die vielfach kritisierte Willkür der Regierung lassen die Türkei immer mehr einem krisengeschüttelten Nahost-Staat gleichen: Der Syrien-Konflikt destabilisiert den nördlichen Nachbarn und Nato-Staat. „Der Krieg zwischen dem IS und den Kurden in Syrien greift auf die Türkei über“, schrieb der Kolumnist und Islam-Experte Mustafa Akyol auf Twitter.
Angesichts der geplanten Massenkundgebungen der Parteien vor der Wahl dürfte die Angst vor weiteren Attacken weiter wachsen. Sicherheitsexperte Özcan hält den Pessimismus für durchaus berechtigt. Auch er erwarte, dass es noch schlimmer kommen wird. Einige Türken hätten sich Al-Kaida-Gruppen in Syrien angeschlossen, andere kämpften für regierungstreue Milizen auf der Seite von Präsident Baschar al-Assad. „Und sie alle tragen den Krieg in die Türkei“, sagte er.
Auch in der türkischen Führung wird diese Gefahr gesehen. Die Türkei werde alleine nicht mehr mit der Lage in Syrien fertig, sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter, der nicht genannt werden will. EU, Nato und der Westen insgesamt müssten etwas tun und Verantwortung übernehmen. Insbesondere seit dem Beginn des russischen Militäreinsatzes aufseiten der syrischen Regierung ist man in Ankara überzeugt, dass schwierige Zeiten bevorstehen. Für die türkische Politik in Nahost, die Lage in der Region insgesamt, aber auch für den Kurdenkonflikt in der Türkei habe sich der Krieg in Syrien wie ein Fluch ausgewirkt, sagte der Regierungsvertreter: „Syrien hat alles vergiftet.“
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