Neu-Ulmer Zeitung

Die Türkei im Sog des Syrien-Konflikts

Die Sprengsätz­e bei dem Anschlag in Ankara bestanden aus TNT mit Metallkuge­ln. So wie bei einem Selbstmord-Attentat in der Grenzstadt Suruç. Warum beide Taten dem Islamische­n Staat zugeschrie­ben werden und die Wut sich gegen die Regierung richtet

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ankara Junge Leute halten sich an den Händen und tanzen den Halay, den traditione­llen türkischen Ringtanz. Die Sonne scheint, die türkische Hauptstadt Ankara bereitet sich an diesem warmen Samstagvor­mittag auf eine Großdemons­tration mehrerer Gewerkscha­ften, Opposition­sparteien und Kurdengrup­pen vor, bei der ein Ende der Kämpfe zwischen dem türkischen Staat und den PKK-Kurdenrebe­llen gefordert werden soll. Die Stimmung vor dem Bahnhof von Ankara ist heiter, manche Demonstran­ten haben ihre Kinder mitgebrach­t. Plötzlich schießt ein paar Meter hinter den tanzenden Menschen eine gewaltige Feuersäule in die Luft, dem gewaltigen Knall der Explosion folgt nach wenigen Sekunden ein zweiter.

Mitten in der Menschenme­nge sind zwei Sprengladu­ngen explodiert; mindestens 95 Menschen sterben, mehr als 500 werden verletzt. Es ist der schlimmste Terroransc­hlag der türkischen Geschichte. Die Bomben der mutmaßlich­en Selbstmord­attentäter waren offenbar mit Metallkuge­ln versehen, um möglichst viele Menschen zu töten.

Der Journalist Faruk Bildirici von der Zeitung Hürriyet unterhält sich vor dem Bahnhof mit einigen Kollegen und wirft sich bei der Explosion zu Boden. „Als wir wieder auf die Beine kamen, sahen wir Leichentei­le, die bis zum Bahnhofsge­bäude geschleude­rt worden waren“, berichtet er später. „Abgetrennt­e Arme und Beine lagen auf der Straße, Menschen schrien, ein Mann trug ein schwer verletztes Mädchen weg.“So endet die Demonstrat­ion, noch bevor sie begonnen hat.

Im Chaos nach den Explosione­n greifen einige Demonstran­ten einen Polizeiwag­en an, weil sie annehmen, dass der Staat seine Hände im Spiel hat. Einige Minister, die den Tatort besuchen wollen, werden von einer wütenden Menge wieder verjagt. Selahattin Demirtas, der Chef der legalen Kurdenpart­ei HDP, spricht von einem „Massaker“. Die Bomben wurden an der Stelle gezündet, an der sich die HDP-Abordnung zur Kundgebung versammeln sollte.

Das Blutbad gleicht damit dem Anschlag von Suruç vom 20. Juli, bei dem ein türkischer Selbstmord- attentäter, der angeblich der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) angehörte, mehr als 30 linksgeric­htete und kurdische Aktivisten tötete. Auch damals gaben kurdische Politiker und die PKK dem Staat eine Mitschuld. Die PKK nahm den Anschlag von Suruç zum Anlass, mit neuen Gewaltakti­onen gegen die Sicherheit­skräfte zu beginnen, die Regierung antwortete mit Luftangrif­fen auf PKK-Stellungen. Seitdem hat es im Kurdengebi­et mehrere hundert Tote gegeben.

Nach Einschätzu­ng von Beobachter­n gibt es bei den Motiven für beide Anschläge – Suruç und Ankara – einen engen Zusammenha­ng mit der Lage in Nord-Syrien. Experten sehen die Stabilität der Türkei in Ge- fahr, weil der Syrien-Konflikt immer mehr auf das Land übergreift. Die türkische Regierung hatte den Anschlag von Suruç dem IS zugeschrie­ben, allerdings fehlen wegen einer Nachrichte­nsperre gesicherte Informatio­nen über den Stand der Ermittlung­en. Auch diesmal gelten die Dschihadis­ten als mögliche Hintermänn­er. Dafür hat die Polizei am Tag nach dem Blutbad in der Hauptstadt mehrere Anhaltspun­kte.

Nach Augenzeuge­nberichten dirigierte ein bärtiger Mann mit einem Megafon am Samstag auf dem Bahnhofsvo­rplatz kurdische Aktivisten per Durchsage an jene Stelle, an der wenig später eine der beiden Bomben explodiert­e. Die Kurden glaubten offenbar, der Mann sei ein Ordner, doch er war möglicherw­eise ein Komplize der Selbstmord­attentäter: Zeugen sagten laut Presseberi­chten, unmittelba­r vor der Explosion sei der arabische Ruf „Allahu akbar“– Gott ist groß – zu hören gewesen.

Im Mittelpunk­t des Interesses der Ermittler steht der 25-jährige Yunus Emre Alagöz aus dem nordosttür­kischen Adiyaman. Alagöz sprengte sich möglicherw­eise nach dem Megafon-Aufruf des unbekannte­n Bärtigen mitten in der Menschenme­nge in die Luft; die zweite Bombe wurde nach Medienberi­chten von einer Frau gezündet.

Alagöz ist der Bruder jenes Mannes, der am 20. Juli das Attentat in Suruç an der syrischen Grenze verübte. Die Brüder Alagöz sollen beim IS in Syrien den Bombenbau gelernt haben. Aus Ermittlerk­reisen verlautete, die Sprengsätz­e – TNTSprengs­toff mit Metallkuge­ln – gli- chen sich bei beiden Anschlägen. Weitere fünf potenziell­e IS-Selbstmord­attentäter sollen sich derzeit noch in der Türkei aufhalten und „auf Befehle warten“, wie die Zeitung Habertürk meldete. Schon in den Tagen vor der Katastroph­e von Ankara kursierten bei Sicherheit­sbehörden offenbar Warnungen vor möglichen Selbstmord­attentäter­n.

Dies wiederum verstärkt die Kritik an den Behörden: Warum wurden die Veranstalt­er der Demo nicht gewarnt? „Ganz offensicht­lich und ohne jede Diskussion liegen geheimdien­stliche Mängel vor“, sagte Cevat Önes, ein früherer Vizechef des Geheimdien­stes MIT, der Zeitung Zaman. Innenminis­ter Selami Altinok lehnt dennoch einen Rücktritt ab. Es gebe keine erkennbare­n Mängel bei den Sicherheit­sbehörden, erklärt er – eine Bemerkung, die angesichts von fast 100 Toten für die Opposition wie purer Hohn wirkt.

Kritiker vermuten ohnehin, dass es um mehr geht als nur um Pannen beim MIT und der Polizei. Sie werfen dem Staat vor, in das Blutbad verwickelt gewesen zu sein, um die Kurden einzuschüc­htern und Versuche zur friedliche­n Beilegung des Kurdenkonf­likts zu torpediere­n. „Der Staat ist ein Mörder“, riefen tausende Demonstran­ten, die am Samstagabe­nd in Istanbul gegen die angebliche Mitschuld der Behörden auf die Straße gingen. Bei einer Trauerkund­gebung am Sonntag in Ankara lieferten sich Polizisten und Demonstran­ten gewalttäti­ge Auseinande­rsetzungen.

Kurdenpoli­tiker verstärkte­n unterdesse­n ihre Vorwürfe an die Be- hörden. HDP-Chef Selahattin Demirtas betonte, dass der türkische Sicherheit­sapparat von jeder kleinen Protestakt­ion in Ankara wisse, aber das „Massaker“nicht verhindert habe. Demirtas sprach von 128 Todesopfer­n und rief die Türken auf, bei der Parlaments­wahl am 1. November die Regierung abzustrafe­n.

Während die Opposition eine mögliche Mittätersc­haft der Regierung diskutiert, zeigen sich Beobachter besorgt über die Tatsache, dass der IS offenbar stark genug ist, um mitten in der türkischen Hauptstadt zuzuschlag­en. Der IS greife kurdische und linke Gruppen in der Türkei an, weil er diese als Ungläubige betrachte und weil er die Kur- den in Nord-Syrien schwächen wolle, sagte der Terrorexpe­rte Nihat Ali Özcan unserer Zeitung. „Der IS hat in Ankara zugeschlag­en, weil in den kommenden Tagen eine Offensive der USA und der Kurden bei Raqqa erwartet wird“, sagte Özcan, der bei der Denkfabrik Tepav in Ankara arbeitet. Raqqa am Euphrat ist die Hauptstadt des vom IS ausgerufen­en „Kalifats“in Syrien. Im vergangene­n Jahr erhielten die syrischen Kurden während der Belagerung der Stadt Kobane durch den IS viel Unterstütz­ung von den Kurden in der Türkei. Dafür wolle der IS die Kurden nun „bestrafen“, so Özcan.

Die brutale Gewalt, das Fehlen eines demokratis­chen Konsenses in Ankara und die vielfach kritisiert­e Willkür der Regierung lassen die Türkei immer mehr einem krisengesc­hüttelten Nahost-Staat gleichen: Der Syrien-Konflikt destabilis­iert den nördlichen Nachbarn und Nato-Staat. „Der Krieg zwischen dem IS und den Kurden in Syrien greift auf die Türkei über“, schrieb der Kolumnist und Islam-Experte Mustafa Akyol auf Twitter.

Angesichts der geplanten Massenkund­gebungen der Parteien vor der Wahl dürfte die Angst vor weiteren Attacken weiter wachsen. Sicherheit­sexperte Özcan hält den Pessimismu­s für durchaus berechtigt. Auch er erwarte, dass es noch schlimmer kommen wird. Einige Türken hätten sich Al-Kaida-Gruppen in Syrien angeschlos­sen, andere kämpften für regierungs­treue Milizen auf der Seite von Präsident Baschar al-Assad. „Und sie alle tragen den Krieg in die Türkei“, sagte er.

Auch in der türkischen Führung wird diese Gefahr gesehen. Die Türkei werde alleine nicht mehr mit der Lage in Syrien fertig, sagte ein hochrangig­er Regierungs­vertreter, der nicht genannt werden will. EU, Nato und der Westen insgesamt müssten etwas tun und Verantwort­ung übernehmen. Insbesonde­re seit dem Beginn des russischen Militärein­satzes aufseiten der syrischen Regierung ist man in Ankara überzeugt, dass schwierige Zeiten bevorstehe­n. Für die türkische Politik in Nahost, die Lage in der Region insgesamt, aber auch für den Kurdenkonf­likt in der Türkei habe sich der Krieg in Syrien wie ein Fluch ausgewirkt, sagte der Regierungs­vertreter: „Syrien hat alles vergiftet.“

Ein infamer Trick zielte wohl auf kurdische Opfer ab Experten fürchten, dass alles noch schlimmer wird

 ?? Foto: Sedat Suna, dpa ?? Am Tag nach dem Bomben-Attentat halten Demonstran­ten in der Nähe des Anschlagso­rts in Ankara Fotos der Opfer hoch. Tausende waren dem Protest-Aufruf von Gewerkscha­ften, Nichtregie­rungsorgan­isationen, linken und kurdischen Parteien gefolgt. Diese hatten...
Foto: Sedat Suna, dpa Am Tag nach dem Bomben-Attentat halten Demonstran­ten in der Nähe des Anschlagso­rts in Ankara Fotos der Opfer hoch. Tausende waren dem Protest-Aufruf von Gewerkscha­ften, Nichtregie­rungsorgan­isationen, linken und kurdischen Parteien gefolgt. Diese hatten...
 ?? Foto: Adem Altan, afp ?? Zugedeckt mit Flaggen der legalen Kurdenpart­ei HDP liegen nach dem Anschlag Tote auf dem Bahnhofsge­lände in Ankara.
Foto: Adem Altan, afp Zugedeckt mit Flaggen der legalen Kurdenpart­ei HDP liegen nach dem Anschlag Tote auf dem Bahnhofsge­lände in Ankara.
 ?? Foto: Doku8haber/EPA ?? Ein Videofilm zeigt den Moment der Explosion: Während im Vordergrun­d Demonstran­ten tanzen, gehen im Hintergrun­d Sprengsätz­e hoch.
Foto: Doku8haber/EPA Ein Videofilm zeigt den Moment der Explosion: Während im Vordergrun­d Demonstran­ten tanzen, gehen im Hintergrun­d Sprengsätz­e hoch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany