Schüsse, die bis heute wirken
Wie vor einem Vierteljahrhundert ein psychisch kranker Attentäter das Leben Wolfgang Schäubles veränderte
Oppenau Es sind drei Schüsse, die das Leben von Wolfgang Schäuble unumkehrbar verändern. Heute vor 25 Jahren, am Abend des 12. Oktober 1990, wird der CDU-Politiker und damalige Bundesinnenminister Opfer eines Attentats. Nach einer Wahlkampfveranstaltung feuert ein geistig verwirrter Mann aus nächster Nähe auf Schäuble. Es ist eine Tat, die bis heute nachwirkt. Schäuble ist seither querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt.
„Ich spüre meine Beine nicht mehr.“Der Satz des am Boden liegenden Ministers brennt sich jenen, die damals dabei waren, ins Gedächtnis ein. Schäubles älteste Tochter, die Sekunden nach den Schüssen den Raum betritt, ist sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass ihr Vater tot ist, wie sie später erzählt.
Schäuble wird durch den Mordanschlag lebensgefährlich verletzt. Er überlebt. Heute ist er 73, Bundesfinanzminister und einer der mächtigsten Politiker Deutschlands. Das Attentat, wenige Tage nach der deutschen Einheit, schreckt damals die Republik auf. Es ereignet sich im kleinen Schwarzwaldort Oppenau, Schäubles Heimat und Wahlkreis. Er lebt nur einige Kilometer entfernt. „Der Auftritt von Wolfgang Schäuble in Oppenau war aus polizeilicher Sicht nichts Ungewöhnli- ches“, sagt ein Polizeibeamter, der an jenem Oktoberabend im Einsatz ist. Schäuble ist in der Region aufgewachsen, sitzt seit 1972 für den ländlich geprägten Wahlkreis im Bundestag. Im „Gasthof Brauerei Bruder“hält Schäuble an diesem Abend vor 250 bis 300 Zuhörern eine Wahlkampfrede, die Bundestagswahl naht. Danach bleibt er noch eine Weile. Zahlreiche Anwesende in dem kleinen Saal des Gasthauses sind dem damaligen Vertrauten von Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich bekannt. Die Stim- mung ist gut. Nur sechs Wochen zuvor hatte Schäuble den Vertrag zur deutschen Einheit unterzeichnet – ein Höhepunkt seiner politischen Karriere, wie er später sagen wird.
Als Schäuble kurz nach 22 Uhr umringt von zahlreichen Menschen den Saal der Gaststätte verlässt, nähert sich ein damals 37 Jahre alter Mann, der bis dahin unauffällig im Publikum gesessen hatte. Am Ausgang zieht er einen Revolver und feuert aus knapp einem halben Meter Entfernung drei Schüsse ab. Zwei davon treffen Schäuble in den Rücken und am Hals. Die dritte Kugel bohrt sich in den Körper eines Personenschützers, der sich vor den zu Boden sinkenden Schäuble wirft. Der 28 Jahre alte Beamte wird von einer Kugel getroffen und verletzt. „Wir waren total geschockt. Nach einem kurzen Moment brach ein wildes Durcheinander los“, erinnert sich ein früherer Mitarbeiter Schäubles, der damals dabei war.
Schäuble verliert viel Blut und kurz nach der Tat das Bewusstsein. Lebensgefährlich verletzt mit dem Rettungshubschrauber in die Uni- versitätsklinik Freiburg gebracht, wo Ärzte fünf Stunden um sein Leben ringen. Schnell wird klar, dass Schäuble nie wieder wird gehen können. Er ist vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt. Der Kanzler, der nach Freiburg an Schäubles Krankenbett eilt, zeigt sich geschockt über den Gesundheitszustand seines wichtigsten Ministers. Auch der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, der knapp ein halbes Jahr zuvor bei einer Wahlkampfkundgebung einem Attentat zum Opfer fiel, kommt nach Freiburg und ist schockiert. „Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, fragt Schäuble, als er aus dem Koma erwacht, seine Tochter.
Doch Schäuble gibt nicht auf. Mit eiserner Disziplin nimmt er nur wenige Monate nach dem Attentat im Rollstuhl seine Amtsgeschäfte wieder auf. Gesundheitlich zugute kommt ihm, dass er vergleichsweise jung und sportlich ist. Und er gilt als äußerst willensstark. „Er hat ziemlich früh sein Schicksal angenommen“, erinnert sich Ehefrau Ingeborg an die Tage im Krankenhaus: „Es war großartig zu sehen, wie er sich zurück ins Leben kämpft.“Den Abschied aus der Politik, zu dem ihm die Familie rät, lehnt er ab.
Schäubles Attentäter wird nach den Schüssen überwältigt und festgenommen. Weil das Gericht bei ihm Verfolgungswahn feststellt, wird er in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen. Schäuble bat er später in Briefen und in einem Radiointerview um Entschuldigung. Noch heute ist er in Behandlung. Der Polizist, der Schäuble als Personenschützer das Leben rettete, indem er mit seinem Körper die dritte Kugel abgefangen hatte, starb 2004 im Alter von 42 Jahren an Krebs. Vor elf Jahren wurde auch der „Gasthof Brauerei Bruder“abgerissen. Heute steht an seiner Stelle ein Seniorenheim.
Schäubles Lebensretter wurde nur 42 Jahre alt