Ein Pfund Menschenfleisch für 3000 Dukaten
Der neue Intendant Matthias Lilienthal startet die Theatersaison mit Hintersinn: hier ein erbarmungsloser jüdischer Wucherer, dort das Münchner Olympia-Attentat aus palästinensischer Sicht
München Theater, das ist eine Welt, in der große emotionale Pendelausschläge dazugehören. Nicht nur auf der Bühne, auch bei Mitarbeitern und denen, die sich fürs Theater interessieren. Beispiele? Augsburg etwa, wenn es diskutiert, wie teuer eine Theatersanierung sein darf. München, wenn es einen neuen Intendanten für seine städtische Bühne, die Kammerspiele, beruft. Dort startet Matthias Lililenthal gerade in seine erste Spielzeit: Für die einen stellt er einen Glücksfall dar, weil er für ein progressives Theater steht – mit internationaler Zusammenarbeit, Performance- und Projektarbeit. Für die anderen ein rotes Tuch, weil sie glauben, dass da einer ohne Sinn für ein wunderbares Schauspielerensemble antritt. Und der Intendant? Sagt in Interviews vor den ersten Premieren, dass er so schlimm doch gar nicht sei.
Das außergewöhnliche Kammerspiel-Ensemble ist von Lilienthal moderat umgebaut worden. Auf den Spielplan hat er nach dem Miet-, Wohn- und Stadtraum-Projekt „Shabby Shabby Apartments“(wir berichteten) einen ShakespeareKlassiker gesetzt – als wolle er sein Nicht-schlimm-Sein gleich mit einer Tat unterstreichen. Dass er mit dem „Kaufmann von Venedig“ein Stück gewählt hat, das auf deutschen Bühnen nicht so einfach gespielt und beklatscht werden kann, spricht für den Hintersinn des Intendanten.
Denn wie geht man in Deutschland mit Shylock um? Diesem jüdischen Geldverleiher aus Venedig, der sich beklagt, dass er – wie seine Glaubensbrüder – herabgesetzt und beleidigt wird. Shylock leiht dem Kaufmann Antonio 3000 Dukaten. Falls dieser das Geld nicht zurückzahlt, will Shylock als Ersatz ein Pfund Fleisch von Antonios Körper. Das klingt wie ein Scherz, wird zum Schluss aber – wegen akuter Zahlungsunfähigkeit Antonios – rachsüchtiger Ernst. Vor Gericht beharrt Shylock mit unglaublicher Hartherzigkeit auf seinem Recht und lässt sich von keinem Gnadenappell erweichen. Ein jüdischer Wucherer als erbarmungsloser Anti-Held auf einer deutschen Bühne – ein Problem, auch für Regisseure.
Man kann nicht sagen, dass sich Nicolas Stemann – Lilienthals Hausregisseur an den Kammerspielen – davor gedrückt hätte. Nur eines hat er gemacht: die emotionalen Pendelausschläge erst einmal auf der Bühne heruntergefahren. Er geht nüchtern ran, zeigt strapazierfähige Silber-Glitzer-Folie als Resonanzraum, Büromöbel und sechs Darstellungs-Angestellte, die den Text (über weite Strecken auf Monitoren eingeblendet) aufsagen. Daraus wird langsam mehr. Hassan Akkouch, Niels Bormann, Walter Hess, Jelena Kuljic, Julia Riedler und Thomas Schmauser laden den „Kaufmann“auf, setzen ihn unter Spannung, ziehen ihn in die Gegenwart herüber, finden Bilder. Eltern schockt man heute nicht, in dem man als Jüdin einen Christen heira- tet, sondern indem man sich als Dragqueen outet. Und Charlie Hebdo macht heute Shakespeare-Späße, von denen man nicht weiß, ob sie zum Lachen sind. Mit seinem an den Text rückgebundenen Verfahren gelingt Stemann ein starker, immer wieder auch emotional packender, umjubelter Einstand.
Einen Tag später am Auftaktwochenende zeigt Lilienthal die Spannbreite auf, um die es ihm geht. Der Libanese Rabih Mroué setzt sich in der Performance „Ode to Joy“mit dem Münchner Olympia-Attentat 1972 auseinander. Raffiniert führt er mit den Darstellerinnen Lina Majdalanie und Manal Khader die Bilder der Geiselnahme vor, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben, und hinterfragt sie. „Hat schon einmal jemand versucht, den Angriff auf die olympischen Spiele aus palästinensischer Sicht zu erzählen?“Ein weiterer starker Beitrag zum Auftakt.
So läuft sie gut an, die erste Spielzeit von Matthias Lilienthal.