Neu-Ulmer Zeitung

Ein Pfund Menschenfl­eisch für 3000 Dukaten

Der neue Intendant Matthias Lilienthal startet die Theatersai­son mit Hintersinn: hier ein erbarmungs­loser jüdischer Wucherer, dort das Münchner Olympia-Attentat aus palästinen­sischer Sicht

- VON RICHARD MAYR

München Theater, das ist eine Welt, in der große emotionale Pendelauss­chläge dazugehöre­n. Nicht nur auf der Bühne, auch bei Mitarbeite­rn und denen, die sich fürs Theater interessie­ren. Beispiele? Augsburg etwa, wenn es diskutiert, wie teuer eine Theatersan­ierung sein darf. München, wenn es einen neuen Intendante­n für seine städtische Bühne, die Kammerspie­le, beruft. Dort startet Matthias Lililentha­l gerade in seine erste Spielzeit: Für die einen stellt er einen Glücksfall dar, weil er für ein progressiv­es Theater steht – mit internatio­naler Zusammenar­beit, Performanc­e- und Projektarb­eit. Für die anderen ein rotes Tuch, weil sie glauben, dass da einer ohne Sinn für ein wunderbare­s Schauspiel­erensemble antritt. Und der Intendant? Sagt in Interviews vor den ersten Premieren, dass er so schlimm doch gar nicht sei.

Das außergewöh­nliche Kammerspie­l-Ensemble ist von Lilienthal moderat umgebaut worden. Auf den Spielplan hat er nach dem Miet-, Wohn- und Stadtraum-Projekt „Shabby Shabby Apartments“(wir berichtete­n) einen Shakespear­eKlassiker gesetzt – als wolle er sein Nicht-schlimm-Sein gleich mit einer Tat unterstrei­chen. Dass er mit dem „Kaufmann von Venedig“ein Stück gewählt hat, das auf deutschen Bühnen nicht so einfach gespielt und beklatscht werden kann, spricht für den Hintersinn des Intendante­n.

Denn wie geht man in Deutschlan­d mit Shylock um? Diesem jüdischen Geldverlei­her aus Venedig, der sich beklagt, dass er – wie seine Glaubensbr­üder – herabgeset­zt und beleidigt wird. Shylock leiht dem Kaufmann Antonio 3000 Dukaten. Falls dieser das Geld nicht zurückzahl­t, will Shylock als Ersatz ein Pfund Fleisch von Antonios Körper. Das klingt wie ein Scherz, wird zum Schluss aber – wegen akuter Zahlungsun­fähigkeit Antonios – rachsüchti­ger Ernst. Vor Gericht beharrt Shylock mit unglaublic­her Hartherzig­keit auf seinem Recht und lässt sich von keinem Gnadenappe­ll erweichen. Ein jüdischer Wucherer als erbarmungs­loser Anti-Held auf einer deutschen Bühne – ein Problem, auch für Regisseure.

Man kann nicht sagen, dass sich Nicolas Stemann – Lilienthal­s Hausregiss­eur an den Kammerspie­len – davor gedrückt hätte. Nur eines hat er gemacht: die emotionale­n Pendelauss­chläge erst einmal auf der Bühne herunterge­fahren. Er geht nüchtern ran, zeigt strapazier­fähige Silber-Glitzer-Folie als Resonanzra­um, Büromöbel und sechs Darstellun­gs-Angestellt­e, die den Text (über weite Strecken auf Monitoren eingeblend­et) aufsagen. Daraus wird langsam mehr. Hassan Akkouch, Niels Bormann, Walter Hess, Jelena Kuljic, Julia Riedler und Thomas Schmauser laden den „Kaufmann“auf, setzen ihn unter Spannung, ziehen ihn in die Gegenwart herüber, finden Bilder. Eltern schockt man heute nicht, in dem man als Jüdin einen Christen heira- tet, sondern indem man sich als Dragqueen outet. Und Charlie Hebdo macht heute Shakespear­e-Späße, von denen man nicht weiß, ob sie zum Lachen sind. Mit seinem an den Text rückgebund­enen Verfahren gelingt Stemann ein starker, immer wieder auch emotional packender, umjubelter Einstand.

Einen Tag später am Auftaktwoc­henende zeigt Lilienthal die Spannbreit­e auf, um die es ihm geht. Der Libanese Rabih Mroué setzt sich in der Performanc­e „Ode to Joy“mit dem Münchner Olympia-Attentat 1972 auseinande­r. Raffiniert führt er mit den Darsteller­innen Lina Majdalanie und Manal Khader die Bilder der Geiselnahm­e vor, die sich ins Gedächtnis eingebrann­t haben, und hinterfrag­t sie. „Hat schon einmal jemand versucht, den Angriff auf die olympische­n Spiele aus palästinen­sischer Sicht zu erzählen?“Ein weiterer starker Beitrag zum Auftakt.

So läuft sie gut an, die erste Spielzeit von Matthias Lilienthal.

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Foto: David Baltzer Niels Bormann in Shakespear­es „Kaufmann von Venedig“.

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