Tränen für Bronze
Felix Neureuther gelingt nach großem Rückstand im ersten Durchgang des Slaloms ein perfekter zweiter Lauf. Platz drei beschert dem 32-Jährigen ein emotionales WM-Finale
Binnen weniger Sekunden änderten sich gestern Nachmittag bei der Ski-WM in St. Moritz zwei Dinge dramatisch. Erstens der Gemütszustand des Felix Neureuther und zweitens die Medaillenbilanz des Deutschen Skiverbands. Nur als Zehnter ins Slalom-Finale gestartet, gewann der Star des deutschen Teams Bronze. Das kam derart überraschend, dass den sonst so coolen Oberbayer die Gefühle übermannten. Die Siegerehrung direkt nach dem Rennen überstand er zusammen mit dem neuen Weltmeister Marcel Hirscher und Silbermedaillengewinner Manuel Feller (beide Österreich) noch einigermaßen unbeschadet. Dann aber flossen Tränen – und Millionen TV-Zuschauer waren Zeuge.
Dazu muss man wissen, dass die Wege im Zielbereich von St. Moritz extrem kurz sind. Die Plattformen der großen Fernsehsender befinden sich nur wenige Schritte vom Athletenbereich entfernt. Für die Medaillengewinner beginnt schon wenige Momente nach dem Rennen ein wahrer Interview-Marathon, an dessen Anfang die großen Sender stehen, die sich die TV-Rechte gesichert haben. Pressesprecher Ralph Eder hatte Neureuther gerade vor die Kameras der ARD gestellt, als sich der 32-Jährige abrupt abwendete. Offenbar hatte er jetzt erst realisiert, was ihm da gerade gelungen war. Bis zuletzt habe er nicht so richtig daran geglaubt, dass es noch bis aufs Stockerl reichen könnte, wird er später an diesem grandiosen Tag sagen.
Platz zehn nach dem ersten Durchgang hatte auch die größten Optimisten im deutschen Team eine medaillenlose WM befürchten lassen. Statistiker hatten längst heraus gekramt, dass der DSV zuletzt im Jahr 2007 ganz ohne Edelmetall geblieben war. Der Druck war also gewaltig, der auf Neureuther lastete, als er sich bei strahlendem Sonnenschein zum zweiten Durchgang aus dem Starthaus katapultierte. „Ich wusste, dass ich alles riskieren muss“, sagte Neureuther und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Das Risiko wurde belohnt. Ihm gelang ein fast perfekter Lauf. Die Freude aber war zunächst nur verhalten. Immerhin standen noch neun Fahrer oben. Einer nach dem anderen aber fuhr langsamer oder schied aus. Nur Feller raste an Neureuther vorbei. Und auf einmal war nur noch Hirscher, der Schnellste des ersten Durchgangs, übrig. Bronze. „Das ist absoluter Wahnsinn“, sprudelte es aus Neureuther heraus, als er sich wieder gefasst hatte. „Es hätte hier für mich nicht schlechter laufen können. Eine schwierigere Situation kann man eigentlich nicht haben. Und jetzt steht ich hier mit Bronze und denk an alle, die mir auf meinem Weg geholfen haben.“
Im Teamwettbewerb hatte Neureuther seine fast schon unendliche Krankenakte um ein weiteres Kapitel verlängert. Bei einem Sprung verzog er sich den lädierten Rücken und stapfte seitdem reichlich hüftsteif durch St. Moritz. Im Riesenslalom am Freitag war Neureuther nur hinterhergefahren, gab sich aber da schon kämpferisch: „Der Slalom ist eine neue Situation. Mal schauen, was geht.“
Die Antwort lieferte er gestern. Gefolgt von einer bemerkenswerten Liebeserklärung an seine Freundin Miriam Gössner. Die Biathletin hatte ursprünglich nach St. Moritz kommen wollen, das Doppelzimmer im Mannschaftshotel war schon gebucht. Dann aber verzichtete sie doch auf den Besuch. Vermutlich wollte sie sich den öffentlichen Rummel ersparen, zumal sie selbst eine sportliche Krise durchlebt und die Qualifikation für die BiathlonWM in Hochfilzen verpasst hat. „Diese Medaille ist wirklich für sie“, sagte Neureuther. „Miri sitzt zu Hause und ihr geht es nicht gut. Ich fahre jetzt dann auch nach Hause, da gehöre ich hin.“Im Frühjahr wollen die beiden Sportler in Garmisch-Partenkirchen beginnen, ein Haus zu bauen. Vorher allerdings will Neureuther noch den Schwung des gestrigen WM-Erfolgs nutzen und eine Weltcup-Saison ordentlich zu Ende bringen, in der ihm noch kein Sieg gelungen ist. Sicher ist hingegen schon jetzt, dass er den emotionalsten Auftritt des Winters geliefert hat. „Normalweise bin ich nicht so ‘ne Pussy...“, sagte er am Ende seines Tränenauftritts ins ARD-Mikrofon. Wenig später, am hinteren Ende des Interview-Marathons, formulierte er es noch etwas anders: „Eigentlich bin ich keiner, der da gleich zu Weinen anfängt. Aber heute hats mich gscheit hergschüttelt.“