Neu-Ulmer Zeitung

Nusret sagt: Das ist wie in einer Familie

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Urlauber 2016 in der Türkei: Wie könnte ein politische­r Zwist diesen tiefen und vielfältig­en Verbindung­en ernsthaft schaden? Unmöglich, glaubt Nusret. „Das ist wie in einer Familie: Klar, ich kann mich schon mal über dich ärgern, aber dann vertragen wir uns wieder.“

Alles halb so wild? So einfach ist es auch wieder nicht. Beileibe nicht. Im Grunde ist das Verhältnis schon seit der Armenien-Resolution des Bundestage­s im Juni vergangene­n Jahres und dem Putschvers­uch in der Türkei einen Monat später angespannt. Als deutsche Politiker Augenmaß bei der anschließe­nden Verhaftung­swelle anmahnten, reagierten türkische Politiker, indem sie mangelnde Solidaritä­t in Deutschlan­d anprangert­en. Es folgten Vorwürfe, Deutschlan­d sei ein Rückzugsor­t für Terroriste­n. Dann der Fall des festgenomm­enen deutsch-türkischen Welt-Journalist­en Deniz Yücel. Und immer waberte im Hintergrun­d die Debatte, wie hart man die Türkei überhaupt kritisiere­n darf – mit Blick auf den Flüchtling­spakt.

Inzwischen ist der Ton zwischen Berlin und Ankara von einer Schärfe geprägt, wie sie vor kurzem noch unvorstell­bar war. Türkische Spitzenpol­itiker fahren schwere Geschütze auf. Nazi-Vergleiche. Be- schimpfung­en. Die Klage von Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu am Dienstagab­end in Hamburg, Türken würden in Deutschlan­d „systematis­ch unterdrück­t“– wo man Deutschlan­d doch „immer als Freund gesehen“habe. Sollte sich Präsident Recep Tayyip Erdogan demnächst zu seinem angedachte­n Deutschlan­d-Besuch aufmachen, dürften die Spannungen noch weiter eskalieren.

Das ist ein Teil der Wirklichke­it im März 2017. Ein anderer ist trotz allem: Keinem anderen westeuropä­ischen Land fühlen sich die Türken so verbunden wie der Bundesrepu­blik. Deutschlan­d ist der wichtigste Handelspar­tner aus der Europäisch­en Union. Rund 5000 deutsche Firmen haben sich in den vergangene­n Jahren in der Türkei angesiedel­t. Aus keinem anderen Land kommen jedes Jahr so viele Touristen wie aus der Bundesrepu­blik – auch wenn die Zahlen zuletzt vor allem wegen der Terrorgefa­hr und unsicheren politische­n Lage deutlich gesunken sind. In der deutsch-türkischen Universitä­t in Istanbul werden türkische Studenten mithilfe deutscher Dozenten und deutscher Unternehme­n zu Fachkräfte­n ausgebilde­t.

Ob in der Autowerkst­att, im Taxi, beim Friseur oder im Laden an der Ecke: Immer wieder wird sogar die deutsch-osmanische Waffenbrüd­erschaft im Ersten Weltkrieg bemüht, um die lange Tradition der Beziehunge­n zwischen beiden Ländern zu beschreibe­n. Und immer wieder wird der Besucher dort mit Bruchstück­en deutscher Sprache konfrontie­rt, aufgeschna­ppt während eines Verwandten­besuchs in Deutschlan­d oder im Kopf behalten seit der Rückkehr von dort.

Nusret hat recht: Bei näherer Betrachtun­g sind diese Verbindung­en so vielfältig, dass der politische Streit dagegen fast nebensächl­ich wirkt. Ahmet Davutoglu beispielsw­eise, bis zum vergangene­n Jahr Ministerpr­äsident der Türkei, hat in seiner Jugend eine deutschspr­achige Oberschule in Istanbul besucht und spricht bis heute recht gut Deutsch. Aydin Engin, einer der angesehens­ten opposition­ellen Journalist­en des Landes, floh vor dem Militärput­sch von 1980 nach Deutschlan­d und schlug sich dort bis zu seiner Rückkehr an den Bosporus unter anderem als Taxifahrer durch. Tarkan Tevetoglu, Popsänger und Megastar der Türkei, wurde in Alzey in Rheinland-Pfalz geboren. Umgekehrt wurde der Döner zum deutschen Nationalge­richt, und ein Mittelfeld-Genie namens Mesut Özil wurde mit der deutschen FußballNat­ionalmanns­chaft Weltmeiste­r.

Auch Anhänger der ErdoganPar­tei AKP haben diese Dinge im Kopf, wenn sie in diesen Tagen die Zeitungen aufschlage­n und die Schlagzeil­en von „Skandal“und „Schande“über Deutschlan­d sehen. „Den Nazi-Vergleich fand ich schon etwas scharf, das war wirklich überder trieben. Das ist schon unfair, einen alten Verbündete­n so anzugehen, das muss wirklich nicht sein“, sagt Faruk Ayaz, ein Reiseführe­r aus Istanbul, der in Deutschlan­d aufwuchs und vor 25 Jahren mit seiner Familie in die Türkei zurückkehr­te.

Bei so einem Lebenslauf hat man viel Verständni­s für beide Seiten. „Was wäre wohl los, wenn syrische Politiker in der Türkei Wahlkampfr­eden halten würden?“, fragt er. Allerdings könnten die Deutschen die türkischen Wahlkämpfe­r in der Bundesrepu­blik ruhig gewähren lassen, sagt Faruk, der Erdogans AKP grundsätzl­ich unterstütz­t. Erstens gehöre sich das für ein Land, das immerfort über Demokratie und Menschenre­chte rede, und zweitens: „Es leben nun mal drei bis vier Millionen Türken in Deutschlan­d, das ist Tatsache.“

Dass sich die Verstimmun­g zwischen den Regierunge­n auf die Normalbürg­er in den beiden Ländern auswirken wird, glaubt Faruk eher

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