Paul Auster: Die Brooklyn Revue (10)
HDeutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
arry war froh, dass er so war, froh, immun gegen das Vorurteil zu sein, das ihn gezwungen hätte, lebenslänglich auf die Reize einer Hälfte der Menschheit zu verzichten, aber bis Bette ihm 1967 einen Heiratsantrag machte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, eine feste Beziehung einzugehen, geschweige denn, dass er sich als Ehemann wiederfinden könnte. Harry hatte in der Vergangenheit viele Menschen geliebt, war aber selbst nur selten geliebt worden, und Bettes Leidenschaft erstaunte ihn. Sie bot ihm nicht nur ohne Vorbehalte ihre Hand an, sondern gewährte ihm im gleichen Atemzug auch noch vollkommene Freiheit.
Natürlich musste er auch gewisse Nachteile in Kauf nehmen. Da waren zum einen Bettes Familie und die tyrannischen Einmischungen ihres aufgeblasenen Vaters, der immer wieder damit drohte, seine Tochter zu enterben, wenn sie sich nicht von „diesem widerwärtigen Schwulen“scheiden ließe. Und dann war da,
womöglich noch beunruhigender, Bette selbst. Nicht der Mensch oder das Wesen Bette, sondern ihr Körper, ihre äußere Erscheinung, die kleinen, schielenden Augen und die abstoßenden schwarzen Härchen, die ihre fleischigen Unterarme zierten. Harry besaß von Natur aus einen hoch entwickelten Schönheitssinn, und noch nie hatte es ihm jemand angetan, der kein attraktiver Mensch war. Wenn irgendetwas ihn zögern ließ, sie zu heiraten, dann ihr Aussehen. Aber Bette war so liebenswürdig und stets so sehr darauf bedacht, ihn zufrieden zu stellen, dass Harry den Sprung wagte, im vollen Bewusstsein, dass seine erste Aufgabe als Ehemann darin bestehen würde, seine Frau zum Faksimile einer Frau zu modellieren, die im rechten Licht und unter angemessenen Umständen – einen Funken Verlangen in ihm wecken konnte. Einige Verbesserungen waren ziemlich einfach zu bewerkstelligen. Ihre Brille wurde durch Kontaktlinsen ersetzt, ihre Garderobe aufge- peppt; ihre Arme und Beine wurden in regelmäßigen Abständen einer schmerzhaften Enthaarung unterzogen. Andere Faktoren freilich konnte Harry nicht beeinflussen; da galt es Anstrengungen zu unternehmen, bei denen seine frisch gebackene Braut auf sich allein gestellt war. Und Bette tat ihm den Gefallen. Mit der ganzen Disziplin und Selbstverleugnung einer frommen Schwester Gottes brachte sie es zuwege, im ersten Jahr ihrer Ehe ein Fünftel ihres Körpergewichts wegzuhungern - von unansehnlichen 70 auf schlanke 55 Kilo zu gelangen. Das zähe Ringen seiner willensstarken Galatea rührte ihn, und während Bette unter der Obhut und dem fürsorglichen Blick ihres Gatten aufblühte, entwickelte sich ihre zunehmende Bewunderung füreinander zu einer soliden, dauerhaften Freundschaft. Floras Geburt im Jahre 1969 war nicht das Ergebnis einer eigens geplanten einmaligen Nacht. Harry und Bette schliefen in den ersten Jahren ihrer Ehe so oft miteinander, dass eine Schwangerschaft nahezu unausweichlich war - ein fait accompli a priori. Wer von Harrys Freunden hätte eine solche Wandlung vorhergesehen? Er hatte Bette geheiratet, weil sie versprochen hatte, ihm seine Freiheit zu lassen, aber als sie dann zusammen waren, stellte er fest, dass er wenig oder gar kein Interesse daran hatte, sie zu nutzen. Im Februar 1968 öffnete die Galerie ihre Pforten. Für den vierunddreißigjährigen Harry erfüllte sich damit ein lange gehegter Traum, und um ihn zum Erfolg zu machen, scheute er keine Mühe. Chicago war gewiss nicht das Zentrum der Kunstwelt, aber auch kein Provinznest, und in der Stadt war genug Geld in Umlauf, dass ein kluger Mensch einen Teil davon in die eigene Tasche lenken konnte. Nach einiger Zeit gründlichen Nachdenkens wusste er, wie die Galerie heißen sollte: Dunkel Frères. Harry hatte zwar keine Brüder, fand aber, der Name verleihe dem Unternehmen ein gewisses europäisches Flair und lasse zudem auf eine lange Familientradition im Kunsthandel schließen. Wie er es sah, führte der deutsche Eigenname in Verbindung mit dem französischen Beiwort zu einer bestrickenden, alles in allem positiven Verwirrung in den Köpfen seiner Kunden. Die einen würden die Vermengung der beiden Sprachen als Hinweis auf einen elsässischen Ursprung deuten. Andere würden ihn für den Spross einer deutsch-jüdischen Familie halten, die nach Frankreich emigriert war. Wieder anderen würde er vollkommen rätselhaft erscheinen. Niemand würde über Harrys Herkunft Gewissheit haben – und ein Mann, der sich mit einer geheimnisvollen Aura zu umgeben weiß, hat in der Öffentlichkeit immer ein paar Pluspunkte.
Er spezialisierte sich auf Arbeiten junger Künstler - hauptsächlich Gemälde, aber auch Skulpturen und Installationen und dazu ein paar Happenings, die Ende der Sechziger noch in Mode waren. Die Galerie sponserte Dichterlesungen und soirées musicales, und da Harry am Schönen in jeder Form Gefallen hatte, ließ Dunkel Frères sich in ästhetischen Dingen nie auf eine bestimmte Position festlegen. Pop und Op, Minimalismus und abstrakte Kunst, Pattern Painting und Fotografien, Videokunst und Neoexpressionismus - im Lauf der Jahre zeigten Harry und sein Phantombruder Werke sämtlicher Trends und Richtungen der Epoche. Die meisten Ausstellungen waren Flops. Das stand zu erwarten, gefährlicher für die Zukunft der Galerie waren jedoch die Abgänge des halben Dutzends echter Künstler, die Harry nach und nach entdeckt hatte. Er verhalf irgendeinem jungen Menschen zum Durchbruch, förderte seine Arbeit mit viel Gespür und Aufschneiderei, erschloss den Markt, begann ordentliche Profite zu machen, und dann, nach zwei oder drei Ausstellungen, sprang der Künstler ab und ging nach New York. Das war das Problem, wenn man seinen Sitz in Chicago hatte, und Harry begriff, dass die wahrhaft Talentierten an diesem Schritt gar nicht vorbeikamen.
Aber Harry war ein Glückspilz. 1976 erschien ein zweiunddreißigjähriger Maler namens Alec Smith in der Galerie und gab ein Päckchen Dias ab. Harry war an diesem Tag nicht da; erst am folgenden Nachmittag gab ihm seine Mitarbeiterin den Umschlag, und als er die Dias herausnahm, um sie – auf nichts, allenfalls auf eine Enttäuschung gefasst - rasch einmal vor dem Fenster durchzusehen, merkte er sofort, dass er große Kunst vor sich hatte. Smiths Arbeiten besaßen alles: Kühnheit, Farbe, Energie und Licht. Figuren wirbelten durch klatschend aufgetragene Farbbahnen, vibrierende Ausbrüche glühender Emotionen, ein Schrei aus tiefster Seele, so wahr, so voller Leidenschaft, dass Lebensfreude und Verzweiflung gleichermaßen aus diesen Bildern zu sprechen schienen. Gemälde dieser Art hatte Harry noch nie zuvor gesehen, und ihr Eindruck war so gewaltig, dass ihm plötzlich die Hände zitterten. Er setzte sich hin, studierte jedes einzelne der siebenundvierzig Bilder auf seinem kleinen Diabetrachter, und dann griff er zum Telefon und bot Smith eine Ausstellung an.