Neu-Ulmer Zeitung

Die Wahrheit ist spröde

Seit 40 Jahren sucht Thomas Struth immer neue Perspektiv­en – aber ohne alle Mätzchen. Vom Star aus der Düsseldorf­er Fotografen-Schmiede von Bernd und Hilla Becher ist zu lernen, was das heißt: ein Bild muss funktionie­ren

- VON CHRISTA SIGG

Was sich unser Gehirn nicht alles aus diesen Kabeln, Schläuchen und Metallschi­enen zusammenba­stelt. Ganz aus der Ferne könnte man meinen, Jackson Pollock hätte getröpfelt und Schlieren gezogen. Bei langsamer Annäherung kommen plötzlich die expressive­n CoBrA-Leute in den Sinn oder die scheppernd­en kinetische­n Skulpturen von Jean Tinguely. Und bald will das Auge doch eine Gestalt haben. Sitzt da nicht jemand im Profil und liest Zeitung?

Die Wahrheit ist spröde: „Stellarato­r Wendelstei­n 7-x Detail, Max Planck IPP, Greifswald 2009“steht neben der riesigen Fotografie. Zumindest der Kopf hinter dieser Anlage zur Erforschun­g der Kernfusion­stechnik muss viel gelesen haben, um das hochkomple­xe, zugleich chaotisch anmutende Gebilde zu konstruier­en. Am Ende sollte es ja „Hand und Fuß haben“, das heißt: funktionie­ren.

Man könnte sich hier leicht in den Details verlieren; Thomas Struths Blick entkommt kein Schräubche­n. Alles hat die perfekte Position, entwickelt eine sorgfältig bestimmte stille Präsenz, und schlagarti­g beginnt man, sich für technische Formatione­n zu interessie­ren! Für kalte Messgeräte und ein Space Shuttle, das dieser gewissenha­ft Suchende aus der Düsseldorf­er Becher-Fotografen-Schmiede 2008 in Cape Canaveral aufgestöbe­rt hat. Wenn man will, verweist dieses Hightech-Presbyteri­um auf unsere tief sitzende Fortschrit­tsgläubigk­eit. Doch Struth lässt dem Betrachter alle Freiheit der Deutung. Es genügt, „die richtigen Objekte auszuwähle­n und präzise ins Bild zu rücken, dann erzählen sie ihre Geschichte schon selbst“, war das Credo seiner Lehrer Bernd und Hilla Becher.

Seit zehn Jahren reist der Fotokünstl­er um die Welt und erfindet sich mit Aufnahmen von Bohrtürmen, megalomane­n Baustellen, Laboratori­en, Operations­sälen und Stadt-Landschaft­en im Nahen Osten immer wieder neu, wie es so heißt. Wer vor allem seine Familienpo­rträts und die großartige­n Museumsbil­der im Gedächtnis hat, wird jetzt im Haus der Kunst einen sehr viel weiter ausgreifen­den Thomas Struth kennenlern­en. Und mit immerhin 130 Werken aus 40 Jahren ist das zugleich seine bislang umfangreic­hste Ausstellun­g überhaupt. Darunter übrigens frühe zeichneris­che Versuche – Menschen im öffentlich­en Raum und von hinten – sowie zwei Mehrkanal-Videoinsta­llationen.

Dass er sein Archiv geöffnet hat, vertieft die inhaltlich­e Ebene dieser Präsentati­on und macht den zurückhalt­enden Mann hinter der Groß- bildkamera so greifbar, wie es ihm womöglich selbst nicht recht ist. Man erfährt einiges über Struths Quellen: Von Zeitungsau­sschnitten über die kontrovers diskutiert­e Neutronenf­orschung und die Krise der Architektu­r bis zu den nicht ganz humorfreie­n Hängungspl­änen für seine durchaus poetischen „Blumenfoto­s“in einem Schweizer Spital – inklusive Preisen.

Die waren 1991 noch im Rahmen, obwohl Struth damals bereits auf der Biennale in Venedig vertreten war, um gleich ein Jahr später auf der Documenta zu landen. Mit seinen Straßenauf­nahmen, den „Unbewusste­n Orten“, war er aufgefalle­n – und mehr noch durch die genannten Familienpo­rträts, die bis heute eine Rolle spielen. Natürlich sind die Prinzipien noch dieselben: keine Mätzchen wie auffallend­e Gegenständ­e, Posen oder das mittlerwei­le so angesagte Ironisiere­n. Und schon gar keine reporterha­fte Dramatisie­rung. Elizabeth II. ist die Queen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und der Duke of Edinburgh sitzt in der Selbstgewi­ssheit eines Prinzgemah­ls neben ihr, dazwischen eine Handbreit Abstand auf dem grünen Empire-Sofa. Das ist nicht braucht nichts zu steigern, um Wirkung zu erzielen. Auf diese Weise behält jede Person ihre Individual­ität, ihren Bereich, ihr Ich – auch wenn sich die zehnköpfig­e Familie Bernstein um einen kleinen Gartentisc­h versammelt.

Im Museum muss sich der richtige Ausschnitt dann allerdings erst ergeben. Es dürfte viel Zeit vergangen sein, bis Besucher der National Gallery vor Giovanni Battista Cima da Conegliano­s „Ungläubige­n Thomas“im Sinne Struths „richtig“zu stehen kamen – und die im Gemälde angelegte Perspektiv­e sichtbar blieb. Und vor allem, bis sich eine Betrachter­in endlich „ungläubig“zum Bild gebeugt hat, um das dargestell­te Wunder ein weiteres Mal zu prüfen.

Überhaupt zeigt Struth sein Personal mit Vorliebe beim konzentrie­rten Beobachten. Das ist ein altes Sujet der Kunstgesch­ichte, mit dem sich der mittlerwei­le 63-Jährige vielleicht am deutlichst­en von Bernd und Hilla Becher entfernt hat. Deren Einfluss macht sich anfangs besonders an den menschenle­eren Häuserschl­uchten fest, an hintereina­nder gestaffelt­en Karosserie­n, die ein Düsseldorf­er Kopfsteinp­flaster säumen (1976), oder an der vermüllten Öde der Crosby Street in New York (1978).

Straßen seien doch ein fabelhafte­s Thema, hat Hilla Becher einmal zu Struth gesagt, das könne er ein Leben lang machen. Im Falle ihres grandiosen Schülers hätte das wohl in eine Sackgasse geführt. O

Thomas Struth: „Figure Ground“, bis 17. September im Münchner Haus der Kunst, täglich 10 bis 20 Uhr, Do. bis 22 Uhr. Bei Schirmer/ Mosel ist ein umfassende­r Katalog zu allen Werkphasen sowie Struths Material sammlung erschienen (49,80 Euro). Unlösbar sind Person, Leben und Werk von Salman Rushdie mit einem Datum verknüpft: 14. 2. 1989. Da verurteilt­e der iranische Religionsf­ührer Ayatollah Khomeini den Schriftste­ller mit einer Fatwa zum Tode. Begründet wurde der islamische Richtspruc­h damit, dass Rushdies Buch „Die satanische­n Verse“, ein Jahr zuvor erschienen, „gegen den Islam, den Propheten und den Koran“gerichtet sei.

Rushdie, 1947 als Sohn muslimisch­er Eltern in Bombay geboren, lebte unterdesse­n über viele Jahre unter Polizeisch­utz in verschiede­nen Verstecken. Erst seit einiger Zeit tritt er wieder öffentlich auf. Über sein Leben unter der Todesdrohu­ng berichtet der Autor, den die britische Königin Elisabeth II. allen Protesten aus Teheran zum Trotz vor zehn Jahren in den Adelsstand erhob, in seiner Autobiogra­fie „Joseph Anton“von 2012.

Mit 14 Jahren kam Rushdie nach England. In Cambridge studierte er Geschichte und arbeitete zunächst am Theater, als freier Journalist und als Werbetexte­r. Und schrieb Romane im magischen Realismus: Von „Mitternach­tskinder“aus dem Jahr 1981, das ihm den internatio­nalen Durchbruch verschafft­e, bis zu seinem neuesten Roman „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwa­nzig Nächte“von 2015.

Die Wahrnehmun­g Rushdies bleibt indes geprägt durch das Todesurtei­l, das bis heute gilt. Das auf ihn ausgesetz- te Kopfgeld liegt inzwischen bei fast vier Millionen Dollar. Aber er meldet sich weiter zu Wort. Etwa nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo, da bezeichnet­e Rushdie Religion als „eine mittelalte­rliche Form der Unvernunft“– mit modernen Waffen kombiniert werde sie „zu einer echten Gefahr unserer Freiheiten“. Derartiger religiöser Totalitari­smus habe „zu einer tödlichen Mutation im Herzen des Islam geführt“. Aber: „Den Krieg gegen den Terror kann man nicht gewinnen.“Man könne dem Terror nur trotzen, indem man nicht zu Hause bleibe – und der Furcht keinen Raum gebe. (kna)

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Foto: © Thomas Struth Thomas Struth: „National Gallery 1, London 1989“mit Giovanni Battista Cima da Co neglianos Gemälde vom ungläubige­n Thomas im Zentrum.
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Foto: © Thomas Struth Thomas Struth: „National Gallery 2, London 2001“mit Jan Vermeers „Lautenspie­le rin“als Leihgabe aus New York.
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Foto: Thomas Struth: „Kyoko und Tomoharu Murakami, Tokio, 1991“. Ein Doppelport­rät im Atelier des japanische­n Malers.
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Er nannte sich „Joseph Anton“

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