Was der Kinosessel alles erzählt
Alte Kinosäle sind ein besonderes Erlebnis. Durch die muffige Luft weht ein Hauch von Nostalgie. Der Besucher kann sich vorstellen, wie einst ein Projektor den Film flackernd auf die Leinwand geworfen hat. Das wahre Erlebnis liegt in solchen Kinosälen aber nicht im Film. Das wahre Abenteuer ist es, seinen eigenen Kinosessel zu erkunden.
Allein der Stoffbezug birgt Geschichte. Das Polyester wurde mit Tränen getränkt, als 1998 Leonardo DiCaprio der sinkenden Titanic in die Tiefen des Atlantiks folgte. Mit Schweiß geflutet, als Keanu Reeves sich 1994 von einem Stahlseil gehalten unter einen fahrenden Bus rollen ließ. Die Armlehnen weisen Kratzspuren auf. Folge eines verkrampften Festkrallens, als 1991 ein kannibalischer Psychiater auf die Menschheit losgelassen wurde, um bei der Aufklärung von Verbrechen zu helfen.
Die Polsterung erzählt andere Geschichten. Im Lauf der Jahre drückten unzählige Hintern eine Vielzahl an Gruben in die Sitzfläche. Einen Durchschnitts-Formabdruck quer durch die Gesellschaft. Manchmal musste das Polster hektische Rutschbewegungen abfedern, wenn der Zuschauer mit den Protagonisten mitgefieberte. Bisweilen aber auch den trägen Druck eines eingeschlafenen Kinobesuchers ertragen. Geschichten über zwischenmenschliche Begegnungen verbergen sich in der Polsterung der Armlehnen. In frischer Zuneigung verschlungene Hände stützten sich darauf ab. Ebenso wie Ellbogen, die einen enttäuscht in die Hand gestützten Kopf in der Luft hielten.
Doch alte Kinosessel haben ihre Schattenseiten. Dazu gehören verschüttete Cola, ranziges Popcorn und weitere unappetitliche Hinterlassenschaften. Wer so etwas auf dem Sitz findet, lenkt sich besser mit dem laufenden Film von seiner Erkundungstour ab.