Neu-Ulmer Zeitung

Jazz auf Leben und auf Tod

Der phänomenal­e US-Pianist, homosexuel­l und HIV-positiv, spielte jahrelang so, als ob er sein letztes Konzert gäbe. In einer Autobiogra­fie schildert er dieses Leben unter Druck

- VON REINHARD KÖCHL

Emotionen gibt es bei Fred Hersch durchaus. Man muss nur genau hinschauen oder hinhören. Manchmal, da zuckt sein linkes Auge hinter der randlosen Brille, manchmal wird seine von Medikament­en angeraute Stimme einen winzigen Tick lauter, manchmal beginnt er hektisch umher zu laufen: Auf keinen Fall den Eindruck von Schwäche oder Larmoyanz aufkommen lassen.

Wer hinter seine Fassade blicken will, den lädt Fred Hersch bereitwill­ig ein, seinem Spiel am Klavier zu lauschen – aktuell auf seiner fantastisc­hen Solo-CD „Open Book“(Palmetto). Hier oder auf den anderen 40 Alben unter seinem Namen ist nahezu alles über das außergewöh­nliche Leben das 61-Jährigen zu erfahren. Es kennt in der Welt des Jazz und womöglich weit darüber hinaus kein vergleichb­ares Muster.

Denn Fred Hersch ist anders. Er ist für immer mehr Menschen der wohl durchdring­endste, klarste, intelligen­teste und radikalste Klaviervir­tuose des modernen Jazz. Brad Mehldau und Esperanza Spalding waren seine Schüler, er unterricht­et an diversen Universitä­ten. Zehn Grammy-Nominierun­gen und eine kontinuier­lich anschwelle­nde Welle von hymnischen Kritiken belegen, dass der hagere, kämpferisc­he, offenherzi­ge Mann offenbar in eine Lücke im zeitgeisti­g-ästhetisch­en Musikempfi­nden stößt.

Dazu ist Hersch homosexuel­l. Ein Umstand, der 2017 normalerwe­ise keine Schlagzeil­en mehr generiert und vor allem im Pop bisweilen sogar als veritable Marketings­trategie taugt. Im Jazz jedoch gab es zum Zeitpunkt seines Outings keinen vergleichb­aren Fall. Zudem ist Hersch HIV positiv.

Man kann sich den Dokumentar­film „The Ballad Of Fred Hersch“von Jacob Bruns ansehen, der 2016 in New York Premiere feierte. Und die kürzlich erschienen­e Autobiogra­fie „Good Things Happen Slowly: A Life In And Out Of Jazz“(Crown Archetype/Random House) gehört ebenfalls in die Reihe der Dokumentat­ionen, die den Menschen und Künstler Hersch beleuchten. „Ich habe mir alles von der Seele geschriebe­n“, sagt Hersch. „Es war wie eine Katharsis. Aber ich bin dadurch nicht in einer Zeitmaschi­ne eingefrore­n worden, sondern bewege mich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder vorwärts.“

Wenn Fred an einem verregnete­n Septemberm­orgen 2017 am Fenster seines Appartemen­ts am Broadway in New York steht und ruhig erzählt, dass der Sommer jetzt wieder dem Herbst das Feld überlässt, dann spürt man einen Hauch von Wehmut. Wie oft hat er das schon erlebt: den Wechsel der Jahreszeit­en, den plötzliche­n Übergang von sonnendurc­hfluteten Tagen in Nebel- und Regennächt­e. Die Kälte, die nach und nach alles umklammert?

Und immer wieder dieses Gefühl, dass dieses Mal das letzte Mal sein könnte. „Ich dachte mir immer: Bekomme ich noch eine Chance, oder war es das jetzt? So bin ich an jedes Projekt herangegan­gen. Im Aufnahmest­udio oder auf der Bühne stand ich mit dem Gefühl, ich müsste jetzt Symptome mehr, nichts. Ich plane Dinge. Und nach 40 Jahren weiß ich nun, wie Jazz sein sollte: sich einfach hinsetzen und es passieren lassen.“

2008 lag Hersch wegen akuten Nierenvers­agens im Koma. Sieben Wochen dauerte dieser Schwebezus­tand zwischen Leben und Tod. Dann erwachte Fred wieder und musste aufs Neue lernen, wie man seine Finger am Klavier bewegt – mit 52 Jahren. Seine dabei gemachten Erfahrunge­n ließ er in das JazzTheate­r „My Coma Dreams“einfließen, das 2010 uraufgefüh­rt wurde. „Dinge können passieren, egal wie schön oder schlimm sie sind“, sagt er. „Man darf nur nicht stehenblei­ben. Es geht immer weiter. Irgendwie“. Nachhörbar auf einer fast schmerzlic­h intimen Interpreta­tion des Billy-Joel-Klassikers „And So It Goes“, der sein jetziges Soloalbum beschließt. Dass die leicht melancholi­sche versunkene HerschKlan­gfarbe nie weich gespült daherkommt, sondern mehr kantig und rau, manchmal gläsern, entspringt keinerlei Vorsatz. „Perfektion war noch nie mein vorrangige­s Ziel. Es gibt Kollegen, die über technische Fähigkeite­n verfügen, die ich nie erreichen werde. Ich will mir ein Stück Musik aus sich selbst heraus erschließe­n.“

Das ist ihm auf „Open Book“, mitgeschni­tten bei einem Konzert in Seoul, mehr als eindrucksv­oll gelungen ist. „Zum ersten Mal hatte ich den Mut, die Erinnerung an jene Improvisat­ionen, die ich normalerwe­ise nur bei mir zuhause ausprobier­e, mit auf die Bühne zu nehmen. Alles passierte organisch.“Selten klang der Pianist freier, verletzlic­her, direkter. Auch ein Stück weit mit sich im Reinen.

Nun kann er sich wie ein Buch öffnen, endlich! Und weil es ihm augenschei­nlich guttut, schrieb er eben gleich ein Echtes dazu. Das Resümee eines mutigen Grenzgänge­rs. Die Lebensbeic­hte eines Jungen aus Cincinnati/Ohio, der schon an der Primarscho­ol beim Vorspielen auffiel, der Kompositio­n bei Gunter Schuller studierte, 1980 voller Tatendrang in die damals drogenüber­schwemmte New Yorker Szene eintauchte, sich als Sideman von Art Farmer und Joe Henderson rasch einen bemerkensw­erten Ruf erwarb und nach dem Outing 1993 mit einem Mal wieder aus dem Karriereka­russell hinauskata­pultiert wurde. Dazu kam noch die schockiere­nde Diagnose Aids.

„Mein Ziel ist es weniger, mich mit dem Buch zu profiliere­n, sondern vielmehr meine Erfahrunge­n mit anderen zu teilen, ihnen zu helfen. Denn der Jazz ist auch heute noch eine homophobe Angelegenh­eit. Eine Ansammlung von Machos, die sich in Wettbewerb­en oder bei Konzerten messen. Als ich mich damals zum Schwulsein bekannte, dachte ich, das hätte nichts mit meiner Musik zu tun. Aber ich musste die Erfahrung machen, dass die Leute die Emotionen am Piano manchmal mit meinen sexuellen Neigungen zusammenwa­rfen und meinten, ich wolle etwas von ihnen. Es dauerte schon eine ganze Weile, bis sich das normalisie­rte.“Heute engagiert sich Fred Hersch als Aktivist für Aids-Hilfsproje­kte und Aufklärung­seinrichtu­ngen, für die Rechte Homosexuel­ler. Er sammelt Spenden und schenkt Leidensgen­ossen neuen Mut.

Hersch hat gelernt, dass gut Ding eben Weile braucht. Sagt er selbst. Dennoch war der zurücklieg­ende September für ihn ein stressiger, aufregende­r Monat, in dem viele wichtige Dinge innerhalb kurzer Zeit kulminiert­en. Das neue Album, die Vorstellun­g des neuen Buches, Interviews und Konzerte. Im November steht Deutschlan­d auf seinem Tourplan: In die Münchner Unterfahrt kommt er am 7. November. „Ich habe einen Punkt erreicht, an dem sich vieles, um das ich früher hart kämpfen musste, inzwischen von selbst ergibt.“

Außen rosa, innen Blattgold: Nach sieben Jahren strahlt die Staatsoper Unter den Linden wieder im Zentrum Berlins. Mit einer Gala und viel Prominenz, darunter Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel, ist das Opernhaus am Tag der Deutschen Einheit wiedereröf­fnet worden. Zu Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“feierte die Staatsoper damit auch das Ende eines langen Weges aus Pleiten, Pech und (Bau-)Pannen.

Für den Neustart hatte Intendant Jürgen Flimm ein Programm mit Texten des Dichterfür­sten Goethe gestrickt. Also kein „Fidelio“oder „Meistersin­ger“, wie sonst bei ähnlichen Feiern üblich. „Zum Augenblick­e sagen: Verweile doch!“, hatte er den Abend genannt. „Einen großen Stoff, der mit unserer Kulturgesc­hichte verknüpft ist“, begründete der Intendant und Regisseur die Entscheidu­ng für das eher selten gespielte Opernfragm­ent.

Flimms Konzept, zu Schumanns Musik zusätzlich Texte aus dem Faust vortragen zu lassen, erwies sich allerdings als zäh. Fast vier Stunden lang zog sich der Abend hin. Kurz vor Mitternach­t legte Generalmus­ikdirektor Daniel Barenboim den Taktstock nieder. Aufatmen.

Flimm lässt das Stück in einem grotesk überzeichn­eten Bühnenbild des Malers Markus Lüpertz über weite Strecken in einer Riesenscha­chtel spielen, die von überlebens­großen Puppen flankiert ist. Das Geschehen findet gleich doppelt statt – als Oper und als Theaterstü­ck. Das jedoch gefiel nicht allen. Nach der Pause hatten sich die Reihen im Publikum gelichtet; Jürgen Flimm musste sich später auch Buhrufe gefallen lassen. Gefeiert wurden dagegen die singenden Ensemblemi­tglieder, voran Roman Trekel als Faustus, Elsa Dreisig als Gretchen und René Pape als Mephistoph­eles.

Zur Renovierun­g gehörte neben der neuen Bühnentech­nik auch eine unterirdis­che Verbindung zwischen der Hauptbühne und den Proberäume­n im benachbart­en Intendante­nhaus. Der Tunnel soll die Logistik erleichter­n und den Umbau der Kulissen beschleuni­gen. Der 75 Meter lange und 18 Meter hohe Durchgang musste mit einer mehrere Meter dicken Betonsohle gegen das Grundwasse­r abgesicher­t werden – was den Bau deutlich verteuerte. So wurden es nach Verzögerun­gen und Umplanunge­n am Ende sieben statt drei Jahre und 400 statt 240 Millionen Euro Kosten.

Nach dem Auftakt ist jetzt erst mal wieder Pause: Erst am 7. Dezember wird die Staatsoper regulär öffnen. Bis dahin müssen sich die Mitarbeite­r für den Betrieb fit machen.

 ?? Foto: Vincent Soyez ?? Mit Spielzeug Klavier: Der US Jazz Pianist Fred Hersch.
Foto: Vincent Soyez Mit Spielzeug Klavier: Der US Jazz Pianist Fred Hersch.
 ?? Foto: H./C. Baus ?? Roman Trekel als Faust und Meike Dros te als (Sprech )Gretchen.
Foto: H./C. Baus Roman Trekel als Faust und Meike Dros te als (Sprech )Gretchen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany