Was den Menschenfressern gelegen kam…
Der Beginn von Kazuo Ishiguros Roman „Der begrabene Riese“
Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor. Die von den Römern zurückgelassenen Straßen waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis zurückerobert. Über Flüssen und Sumpf hing ein eisiger Nebel, was den Menschenfressern, die es damals noch gab, nur allzu gelegen kam.
Die dort lebenden Menschen – man fragt sich, welche Verzweiflung sie dazu getrieben hatte, sich in derart trübsinnigen Gegenden niederzulassen – mochten sich wohl gefürchtet haben vor diesen Geschöpfen, die man, lang bevor ihre Missgestalt aus dem Nebel auf- tauchte, an ihrem rasselnden Atem erkennen konnte…
In einer der Siedlungen, die im Schatten zerklüfteter Felsen, am Rand eines ausgedehnten Sumpfgebiets lag, lebte ein älteres Paar, Axl und Beatrice. Es mochten nicht genau oder nicht ihre vollständigen Namen sein, doch der Einfachheit halber wollen wir sie so nennen. Ich würde sagen, dass dieses Paar ein zurückgezogenes Leben führte, aber „zurückgezogen“in einem heutigen Sinn war damals kaum jemand. Wärme und Schutz suchte die Landbevölkerung in Behausungen, die teils tief in den Hügel gegraben und durch unterirdische Gänge und gedeckte Gräben miteinander verbunden waren. Unser älteres Paar lebte mit rund sechzig weiteren Bewohnern in einem solchen Bau – „Gebäude“wäre ein zu großes Wort dafür. Wärt ihr, aus diesem Bau kommend, zwanzig Minuten rund um den Hügel gewandert, so wärt ihr zur nächsten Siedlung gelangt und hättet sie als der ersten völlig gleich empfunden…
Es ist nicht meine Absicht, euch den Eindruck zu vermitteln, dass das Britannien jener Tage nicht mehr zu bieten hatte; dass wir hierzulande kaum die Eisenzeit überwunden hatten, während in anderen Teilen der Welt große Kulturen erblühten. Durchaus nicht: Hättet ihr die Möglichkeit gehabt, nach Belieben durchs Land zu streifen, so hättet ihr Burgen entdeckt, in denen es Musik, gutes Essen, herausragende Athleten gab; oder Klöster, deren Bewohner ins Studium vertieft waren. Aber es hilft nichts: Selbst auf einem starken Pferd und bei gutem Wetter hättet ihr tagelang reiten können, ohne dass ihr im grünen Urwald eine Burg, ein Kloster erspäht hättet. Gefunden hättet ihr vor allem Gemeinschaften wie die oben beschriebene, und wärt ihr nicht mit Nahrung oder Kleidung als Geschenken gekommen oder bewaffnet bis an die Zähne, so wärt ihr wohl nicht empfangen worden. Es tut mir leid, dass ich kein hübscheres Bild von unserem Land, wie es damals war zeichnen kann, aber so ist es eben … (Blessing, Heyne © 2015)