Ingolstädter Verhältnisse
In keiner bayerischen Großstadt hat die AfD so viele Stimmen bekommen wie in Ingolstadt. Dabei ist die Arbeitslosigkeit an der Donau niedrig, die Stadt boomt. Den meisten Menschen hier sollte es doch gut gehen. Oder?
Der Westpark in Ingolstadt ist eines der größten Einkaufszentren in Bayern. 220 Millionen Euro haben die 146 Geschäfte dort zuletzt umgesetzt. Tendenz seit Jahren: steigend. Wäre der Westpark eine Partei, wäre er eine Volkspartei. 6,5 Millionen Besucher kamen vergangenes Jahr. Tendenz: steigend. Auf das Angebot, das von H&M bis zum Juwelier ElfingerZellner reicht, können sich Mehrheiten verständigen. Hier trifft man Leiharbeiter und Krankenschwestern, Audi-Manager, Ex-Ministerinnen und den Herrn Oberbürgermeister. Neben dem Westpark, hinter einem hohen Zaun, steht eines der bayerischen Abschiebelager. Zwischen diesen beiden Welten liegt nur die Richard-Wagner-Straße. Aber es trennt sie wohl viel mehr.
Vor drei Wochen hat die CSU in Ingolstadt ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1949 eingefahren. Die AfD wiederum hat hier 15,3 Prozent der Zweitstimmen geholt – so viel wie in keiner bayerischen Großstadt. Und noch immer fragen sich viele in der 135000-EinwohnerStadt: Wie konnte das passieren – in der schuldenfreien Audi-Stadt, mit der kaum messbaren Arbeitslosenquote von regional 2,1 Prozent, in der „Boomtown“, die von Jahr zu Jahr wächst? Vor allem aber: Wie kann das passieren, in der Heimat von Horst Seehofer?
Es gibt viele Antworten auf diese Frage. Manche beginnen mit den beiden gegenüberliegenden Welten an der Richard-Wagner-Straße. Mit der absurd anmutenden Sorge, dass der Wohlstand der WestparkKlientel auch von jenen 230 Asylsuchenden „mit geringer Bleibeperspektive“bedroht sein könnte. Von jenen Menschen, die hinter den Zäunen des Abschiebelagers Tag für Tag auf die Verheißungen des Konsumtempels starren müssen.
Die Flüchtlinge, das sagen Politiker quer durchs Spektrum, waren das alles dominierende Thema an den Ständen im Wahlkreis 216, zu dem neben Ingolstadt auch der Kreis Eichstätt und große Teile von Neuburg-Schrobenhausen gehören. Mitte des Jahres waren gut 1400 von „Rein objektiv ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden, sehr gering.“An knapp 15 Prozent aller Straftaten in der Stadt waren im Jahr 2016 Zuwanderer beteiligt. Darunter fallen auch gut 300 Ladendiebstähle, knapp 200 Körperverletzungen – knapp 80 Prozent davon in den Unterkünften – sowie sechs Fälle sexueller Übergriffe. Am selben Tag, als die 33-Jährige in Gaimersheim vergewaltigt wurde, wurde in Ingolstadt eine Joggerin überfallen, in ein Gebüsch gezerrt und sexuell missbraucht. Den mutmaßliche Täter hat man bald gefasst, ein Deutscher. Hängengeblieben ist bei den meisten aber der Fall in Gaimersheim, der Ausländer.
Francesco Garita weiß, welche Macht Vorurteile haben können. Seine Familie stammt aus Italien. Seine Onkel, sagt der Linken-Kreisvorstand, erinnerten sich genau, was manche in den 60ern über die Italiener sagten: „Messerstecher.“Und: „Die sind nur auf Frauen aus.“Heute nennt sich auch Ingolstadt gern die nördlichste Stadt Italiens. Garita sieht den Grund für den AfDErfolg im „klaren Versagen“der Großen Koalition. „Die haben weder die sozialen Probleme noch die Flüchtlingsproblematik erkannt.“Zudem habe die Obergrenzendebatte die Glaubwürdigkeit der Union zerstört. „Danach haben viele Leute nicht CSU, sondern das Original gewählt.“
Christina Wilhelm steht am Samstag früh auf dem Neuburger Schrannenplatz, um ihren Wählern zu danken. Warum haben die sich für die AfD entschieden? Die Fremdsprachenkorrespondentin aus Neuburg nennt drei inhaltliche Gründe: Zunächst Merkels Ankündigung, den Verbrennungsmotor abschaffen zu wollen. „Viele haben gesagt, wenn ich CSU wähle, wähle ich CDU und damit meine eigene Arbeitslosigkeit.“Dann: „Die Asylflut“, wie es die Fremdsprachenkorrespondentin nennt, und die Sorge vieler: „Kommen im Zuge des Familiennachzuges noch mal so viele.“Und: Seehofers Unglaubwürdigkeit in Sachen Obergrenze.
Davon hat auch Reinhard Brandl schon gehört. Seit 2009 vertritt der 40-Jährige die CSU im Bundestag, als Nachfolger Seehofers. Am Wahlabend sah er nicht nur glücklich aus – kein Wunder bei fast zwölf Prozent Verlust. Er sagt, dass es der AfD gelungen sei, Nichtwähler zu mobilisieren. Die Flüchtlinge waren das entscheidende Thema: „Horst Seehofer hat versucht, ein bereits gespaltenes Land nicht noch weiter auseinanderdriften zu lassen.“Auf den Einwurf, dass das wohl nicht geklappt hat, erwidert Brandl: „Es hat Kraft gekostet.“
Und Seehofer selbst? Der Minisschieben: terpräsident wird wegen seiner taktischen, eher wechselhaften Wahlkampfvorgaben auch in der CSU heftig kritisiert. Das Schanzer Wahlergebnis hatte er anfangs auf die „Ingolstädter Situation der letzten Jahre“zurückgeführt: „Wir hatten da eine Reihe von Problemen, die uns zugesetzt haben. Das hat mit der Kommunalpolitik zu tun.“Seither fragten sich viele, was er damit gemeint hat: All die Affären, die die Stadt erschüttert haben – der Diesel-Skandal, der Klinikum-Skandal? Am Wochenende präzisierte Seehofer auch auf Anfrage unserer Zeitung dann: „Oberbürgermeister Christian Lösel leistet hervorragende Arbeit. Die Probleme liegen anderswo. Ingolstadt ist von der Zuwanderung besonders betroffen. Ich weiß, wie in der Bevölkerung gesprochen wird.“
Das gilt auch für Christian Lösel. Im Wahlkampf ging es fast nur darum: „Wir haben in der Region eines von zwei Transitzentren des Freistaates, auch das beschäftigt die Menschen. Da gibt es diffuse Ängste, die man aber ernst nehmen muss“, sagt der CSU-Mann. Viele hätten es nicht verstanden, „das unkontrollierte Öffnen der Grenzen und das beharrliche Ablehnen einer Obergrenze durch die Bundeskanzlerin“, sagt er. Und dass es für viele eine Protestwahl war, gegen die Asylpolitik der Bundesregierung.
Vieles spricht dafür, dass es auch im Pius-Viertel so war, dort, wo viele sich abgehängt fühlen. Das Quartier wurde zu Wirtschaftswunderzeiten hochgezogen, um Wohnungen zu schaffen für all die Audi-Mitarbeiter. Wohnblock an Wohnblock wurde aneinandergereiht, eine Tristesse aus Beton entstand. Das „Pius“hat versucht, vom Image als Glasscherbenviertel wegzukommen – und jetzt das: Die AfD lag in den Wahllokalen fast überall bei 30 Prozent, eines schaffte den Ingolstädter Spitzenwert: 35,7.
Martin Geistbeck ist katholischer Pfarrer in St. Pius. Er kann erzählen, wie viel hier passiert ist: die Häuser wurden saniert und bunt gestrichen, es gibt eine Bücherei, eine Fahrradwerkstatt, Schwimmkurse, Spielplätze, die Landesgartenschau wird nebenan stattfinden. Warum aber dieser AfD-Erfolg? Geistbeck kann viele Gründe nennen: Frustration, Protest, Sozialneid, Vorurteile und das Gefühl, dass Politiker von oben herab agieren. Die Klinikumsaffäre etwa, in der es in weiten Teilen um Vetternwirtschaft geht, hat auch die Kommunalpolitik erreicht. Der frühere Oberbürgermeister Alfred Lehmann könnte schon bald auf der Anklagebank landen. Das Ingolstädter AfD-Ergebnis, ist Geistbeck überzeugt, „das hat nix mit dem Pius-Viertel zu tun“.
Ein Pius-Viertel gibt es in jeder Großstadt des Landes. Gibt es also gar keine lokale Besonderheit für das Auftrumpfen der Rechtspopulisten? Dafür spricht eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung. Autor Robert Vehrkamp jedenfalls wundert das AfD-Ergebnis nicht. „Es entspricht dem bundesweiten Profil und Muster der AfD bei der Bundestagswahl.