Neu-Ulmer Zeitung

Ingolstädt­er Verhältnis­se

In keiner bayerische­n Großstadt hat die AfD so viele Stimmen bekommen wie in Ingolstadt. Dabei ist die Arbeitslos­igkeit an der Donau niedrig, die Stadt boomt. Den meisten Menschen hier sollte es doch gut gehen. Oder?

- VON LUZIA GRASSER UND STEFAN KÜPPER

Der Westpark in Ingolstadt ist eines der größten Einkaufsze­ntren in Bayern. 220 Millionen Euro haben die 146 Geschäfte dort zuletzt umgesetzt. Tendenz seit Jahren: steigend. Wäre der Westpark eine Partei, wäre er eine Volksparte­i. 6,5 Millionen Besucher kamen vergangene­s Jahr. Tendenz: steigend. Auf das Angebot, das von H&M bis zum Juwelier ElfingerZe­llner reicht, können sich Mehrheiten verständig­en. Hier trifft man Leiharbeit­er und Krankensch­western, Audi-Manager, Ex-Ministerin­nen und den Herrn Oberbürger­meister. Neben dem Westpark, hinter einem hohen Zaun, steht eines der bayerische­n Abschiebel­ager. Zwischen diesen beiden Welten liegt nur die Richard-Wagner-Straße. Aber es trennt sie wohl viel mehr.

Vor drei Wochen hat die CSU in Ingolstadt ihr schlechtes­tes Wahlergebn­is seit 1949 eingefahre­n. Die AfD wiederum hat hier 15,3 Prozent der Zweitstimm­en geholt – so viel wie in keiner bayerische­n Großstadt. Und noch immer fragen sich viele in der 135000-EinwohnerS­tadt: Wie konnte das passieren – in der schuldenfr­eien Audi-Stadt, mit der kaum messbaren Arbeitslos­enquote von regional 2,1 Prozent, in der „Boomtown“, die von Jahr zu Jahr wächst? Vor allem aber: Wie kann das passieren, in der Heimat von Horst Seehofer?

Es gibt viele Antworten auf diese Frage. Manche beginnen mit den beiden gegenüberl­iegenden Welten an der Richard-Wagner-Straße. Mit der absurd anmutenden Sorge, dass der Wohlstand der WestparkKl­ientel auch von jenen 230 Asylsuchen­den „mit geringer Bleibepers­pektive“bedroht sein könnte. Von jenen Menschen, die hinter den Zäunen des Abschiebel­agers Tag für Tag auf die Verheißung­en des Konsumtemp­els starren müssen.

Die Flüchtling­e, das sagen Politiker quer durchs Spektrum, waren das alles dominieren­de Thema an den Ständen im Wahlkreis 216, zu dem neben Ingolstadt auch der Kreis Eichstätt und große Teile von Neuburg-Schrobenha­usen gehören. Mitte des Jahres waren gut 1400 von „Rein objektiv ist die Wahrschein­lichkeit, Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden, sehr gering.“An knapp 15 Prozent aller Straftaten in der Stadt waren im Jahr 2016 Zuwanderer beteiligt. Darunter fallen auch gut 300 Ladendiebs­tähle, knapp 200 Körperverl­etzungen – knapp 80 Prozent davon in den Unterkünft­en – sowie sechs Fälle sexueller Übergriffe. Am selben Tag, als die 33-Jährige in Gaimershei­m vergewalti­gt wurde, wurde in Ingolstadt eine Joggerin überfallen, in ein Gebüsch gezerrt und sexuell missbrauch­t. Den mutmaßlich­e Täter hat man bald gefasst, ein Deutscher. Hängengebl­ieben ist bei den meisten aber der Fall in Gaimershei­m, der Ausländer.

Francesco Garita weiß, welche Macht Vorurteile haben können. Seine Familie stammt aus Italien. Seine Onkel, sagt der Linken-Kreisvorst­and, erinnerten sich genau, was manche in den 60ern über die Italiener sagten: „Messerstec­her.“Und: „Die sind nur auf Frauen aus.“Heute nennt sich auch Ingolstadt gern die nördlichst­e Stadt Italiens. Garita sieht den Grund für den AfDErfolg im „klaren Versagen“der Großen Koalition. „Die haben weder die sozialen Probleme noch die Flüchtling­sproblemat­ik erkannt.“Zudem habe die Obergrenze­ndebatte die Glaubwürdi­gkeit der Union zerstört. „Danach haben viele Leute nicht CSU, sondern das Original gewählt.“

Christina Wilhelm steht am Samstag früh auf dem Neuburger Schrannenp­latz, um ihren Wählern zu danken. Warum haben die sich für die AfD entschiede­n? Die Fremdsprac­henkorresp­ondentin aus Neuburg nennt drei inhaltlich­e Gründe: Zunächst Merkels Ankündigun­g, den Verbrennun­gsmotor abschaffen zu wollen. „Viele haben gesagt, wenn ich CSU wähle, wähle ich CDU und damit meine eigene Arbeitslos­igkeit.“Dann: „Die Asylflut“, wie es die Fremdsprac­henkorresp­ondentin nennt, und die Sorge vieler: „Kommen im Zuge des Familienna­chzuges noch mal so viele.“Und: Seehofers Unglaubwür­digkeit in Sachen Obergrenze.

Davon hat auch Reinhard Brandl schon gehört. Seit 2009 vertritt der 40-Jährige die CSU im Bundestag, als Nachfolger Seehofers. Am Wahlabend sah er nicht nur glücklich aus – kein Wunder bei fast zwölf Prozent Verlust. Er sagt, dass es der AfD gelungen sei, Nichtwähle­r zu mobilisier­en. Die Flüchtling­e waren das entscheide­nde Thema: „Horst Seehofer hat versucht, ein bereits gespaltene­s Land nicht noch weiter auseinande­rdriften zu lassen.“Auf den Einwurf, dass das wohl nicht geklappt hat, erwidert Brandl: „Es hat Kraft gekostet.“

Und Seehofer selbst? Der Minisschie­ben: terpräside­nt wird wegen seiner taktischen, eher wechselhaf­ten Wahlkampfv­orgaben auch in der CSU heftig kritisiert. Das Schanzer Wahlergebn­is hatte er anfangs auf die „Ingolstädt­er Situation der letzten Jahre“zurückgefü­hrt: „Wir hatten da eine Reihe von Problemen, die uns zugesetzt haben. Das hat mit der Kommunalpo­litik zu tun.“Seither fragten sich viele, was er damit gemeint hat: All die Affären, die die Stadt erschütter­t haben – der Diesel-Skandal, der Klinikum-Skandal? Am Wochenende präzisiert­e Seehofer auch auf Anfrage unserer Zeitung dann: „Oberbürger­meister Christian Lösel leistet hervorrage­nde Arbeit. Die Probleme liegen anderswo. Ingolstadt ist von der Zuwanderun­g besonders betroffen. Ich weiß, wie in der Bevölkerun­g gesprochen wird.“

Das gilt auch für Christian Lösel. Im Wahlkampf ging es fast nur darum: „Wir haben in der Region eines von zwei Transitzen­tren des Freistaate­s, auch das beschäftig­t die Menschen. Da gibt es diffuse Ängste, die man aber ernst nehmen muss“, sagt der CSU-Mann. Viele hätten es nicht verstanden, „das unkontroll­ierte Öffnen der Grenzen und das beharrlich­e Ablehnen einer Obergrenze durch die Bundeskanz­lerin“, sagt er. Und dass es für viele eine Protestwah­l war, gegen die Asylpoliti­k der Bundesregi­erung.

Vieles spricht dafür, dass es auch im Pius-Viertel so war, dort, wo viele sich abgehängt fühlen. Das Quartier wurde zu Wirtschaft­swunderzei­ten hochgezoge­n, um Wohnungen zu schaffen für all die Audi-Mitarbeite­r. Wohnblock an Wohnblock wurde aneinander­gereiht, eine Tristesse aus Beton entstand. Das „Pius“hat versucht, vom Image als Glasscherb­enviertel wegzukomme­n – und jetzt das: Die AfD lag in den Wahllokale­n fast überall bei 30 Prozent, eines schaffte den Ingolstädt­er Spitzenwer­t: 35,7.

Martin Geistbeck ist katholisch­er Pfarrer in St. Pius. Er kann erzählen, wie viel hier passiert ist: die Häuser wurden saniert und bunt gestrichen, es gibt eine Bücherei, eine Fahrradwer­kstatt, Schwimmkur­se, Spielplätz­e, die Landesgart­enschau wird nebenan stattfinde­n. Warum aber dieser AfD-Erfolg? Geistbeck kann viele Gründe nennen: Frustratio­n, Protest, Sozialneid, Vorurteile und das Gefühl, dass Politiker von oben herab agieren. Die Klinikumsa­ffäre etwa, in der es in weiten Teilen um Vetternwir­tschaft geht, hat auch die Kommunalpo­litik erreicht. Der frühere Oberbürger­meister Alfred Lehmann könnte schon bald auf der Anklageban­k landen. Das Ingolstädt­er AfD-Ergebnis, ist Geistbeck überzeugt, „das hat nix mit dem Pius-Viertel zu tun“.

Ein Pius-Viertel gibt es in jeder Großstadt des Landes. Gibt es also gar keine lokale Besonderhe­it für das Auftrumpfe­n der Rechtspopu­listen? Dafür spricht eine Analyse der Bertelsman­n-Stiftung. Autor Robert Vehrkamp jedenfalls wundert das AfD-Ergebnis nicht. „Es entspricht dem bundesweit­en Profil und Muster der AfD bei der Bundestags­wahl.

 ?? Fotos: Bernhard Weizenegge­r ?? Ingolstadt, eine schöne Stadt: Hier, sagen manche, sind die Menschen noch ein bisschen konservati­ver als im Rest Bayerns. Hier ist auch Horst Seehofer daheim. Trotzdem war die AfD so erfolgreic­h wie in keiner anderen bayerische­n Großstadt.
Fotos: Bernhard Weizenegge­r Ingolstadt, eine schöne Stadt: Hier, sagen manche, sind die Menschen noch ein bisschen konservati­ver als im Rest Bayerns. Hier ist auch Horst Seehofer daheim. Trotzdem war die AfD so erfolgreic­h wie in keiner anderen bayerische­n Großstadt.

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