Neu-Ulmer Zeitung

Blaue Flecken überall und die Schuhe waren weg

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überall, und meine Schuhe waren weg.“Sarah war zu Hause und hat bis heute keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen ist.

Man kann das fasziniere­nd finden: Wie Kopf und Körper helfen wollen, indem sie vergessen. Aber ist das gnädig: Nicht mehr zu wissen, was geschehen ist? „Ich will mich erinnern – und doch wieder nicht“, sagt Sarah. In ihrer Therapie arbeitet sie daran, aber dann passiert es plötzlich: Als Jörn Teich sein Telefon zückt; es gibt da ein Lied, auf das er reagiert, obwohl er sich nicht erinnern kann, es in Duisburg gehört zu haben. „Sky And Sand“von den Kalkbrenne­rs, es läuft oft im Radio, zu erkennen an den ersten Tönen – und Sarah beginnt am ganzen Leib zu zittern.

Teich, inzwischen 43, erinnert sich in „Flashbacks“, die Ärzte reden von posttrauma­tischen Belastungs­störungen. Dieses Lied, manche Gerüche, und dann: Hände. Da waren Hände, überall Hände, die nach ihm griffen und nach dem Kind auf seinen Schultern. Nach ihm, der hier gar nicht hinwollte, der durch einen Notausgang auf das Gelände gekommen war, aber nicht wieder hinaus. Den ein Polizist mitten ins Gedränge geschickt hatte mit dem kleinen Mädchen. Und oben, wo die Ahnungslos­en feierten und tanzten, da rief ein DJ, was er auf Partys eben ruft: „Ich will eure Hände sehen!“

Jörn und Sarah, sie haben überlebt, aber nicht als die, die sie einmal waren. Lange hat Sarah geglaubt, was ihre Familie ihr gesagt hat: „Ich muss wieder so werden wie früher.“Lange hat es gedauert, bis sie begriff: „Das geht überhaupt nicht.“Abends, wenn ihr Kind schlief, schaute sie Videos an aus Duisburg, immer wieder dieselben. „Ich habe mich so richtig schön runtergezo­gen.“Und Jörns Vater, der ihn zurückkehr­en sah mit zerrissene­r Hose und gebrochene­n Rippen, sagt bis heute: „Meinen Sohn habe ich nie wiedergese­hen.“

Jörn Teich, der einmal selbststän­dig war, arbeitet nicht mehr, er wird es nie mehr können. Er hatte einen schweren Herzinfark­t, vier Jahre danach, eine Operation, er wünscht sich „nichts mehr als Ruhe“. Aber er kann nicht aufhören mit der Loveparade. Hat sich von Anfang an engagiert, hat organisier­t, sich gestritten; es gibt viele, die sich an ihn wenden, wenn sie nicht mehr weiterwiss­en. Teich ist ihr „Kümmerer“. Sie rufen ihn an, erzählen ihm, wenn sie nicht schlafen können, wenn der Alkohol zu viel wird, wenn Angst und Wahnvorste­llungen ihr Leben zu überwältig­en drohen. Sie weinen und manchmal beschimpfe­n sie ihn auch. Er muss sich dann zurückzieh­en, „mich sortieren“, nennt er das.

Sarah sagt, es sei „beängstige­nd“, er ist dann so still. Dabei kennt sie das selbst: „Ich bin dann ganz in mir.“Aber auch sie hat ja Fragen, die sie ihm stellt: „Ich brauche jemanden, der mir das Warum erklärt.“Warum die anderen weitergefe­iert haben. Warum sie überlebt hat. Das wollen viele wissen, manche hat es gebrochen, sie hadern mit sich, dem Schicksal und ihrem Selbstwert­gefühl. Sarah sagt: „Ich kann mich selbst nicht leiden.“

Jörn Teich hat auch keine Antworten, er hofft auf den Prozess, dass er klärt, „was an diesem Ort passiert ist“. Er wünscht sich irgendeine­n Ausgleich und glaubt zugleich nicht daran. „Das bringt nichts“, sagt er dann, „es ist reine Show“, ihm fehlen Verantwort­liche auf der Anklageban­k. Aber natürlich weiß er: „Die Angehörige­n brauchen das.“

Der 43-Jährige fürchtet, dass die Verhandlun­g alles wieder aufwühlt, dass sie Hinterblie­bene wie Überlebend­e „re-traumatisi­ert“. „Oh, wie schön wird Düsseldorf“, notierte er auf Facebook, „und wie schwer zu ertragen.“Und wenn dann alles zu nichts führt oder kein Urteil fällt vor dem Tag der Verjährung? „Was ist dann?“Werden die vielen Trauernden, die einen Sohn oder die Tochter, den Freund oder die Freundin verloren haben, endlich Ruhe finden? Denn sie haben bisher verdrängt, was von einem eigentlich lustigen Tag übrig blieb. Als Eike, Fabian, Giulia und die anderen 21 Todesopfer der Loveparade-Katastroph­e einfach nur feiern gehen wollten. Manche waren gar keine „Raver“, keine großen TechnoFans,

 ?? Foto: Erik Wiffers ?? Tausende Raver drängten sich am 24. Juli 2010 in und vor dem Tunnel in Duisburg. Zuerst war es nur eng, dann entstand eine Massenpani­k.
Foto: Erik Wiffers Tausende Raver drängten sich am 24. Juli 2010 in und vor dem Tunnel in Duisburg. Zuerst war es nur eng, dann entstand eine Massenpani­k.
 ?? Foto: Ina Fassbender ?? Für den Loveparade Prozess mit seinen über 100 Beteiligte­n zieht die Duisburger Strafkamme­r ins Düsseldorf­er Congress Center um.
Foto: Ina Fassbender Für den Loveparade Prozess mit seinen über 100 Beteiligte­n zieht die Duisburger Strafkamme­r ins Düsseldorf­er Congress Center um.

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