Missbrauchsfälle: Stiefvater soll im Gefängnis bleiben
61-Jähriger wird verurteilt. Obwohl ein Gutachten Widersprüchliches offenbart
Zum Schluss erhebt Richter Jürgen Hasler die Stimme. Alle Blicke im Gerichtssaal richten sich auf ihn. Denn das ist ungewohnt: Sachlich hatte der Vorsitzende der Großen Strafkammer des Memminger Landgerichts die Verhandlung wegen sexuellen Missbrauchs geleitet und dabei zurückhaltend aber freundlich gewirkt. Auch gegenüber dem Angeklagten, der sich Hunderte Male an seiner Stieftochter vergriffen haben soll. Am Ende des Prozesses aber wird Hasler deutlich: „Wenn Ihre Familie zerstört ist, dann sind Sie ganz alleine dafür verantwortlich“, sagt er zu dem Mann auf der Anklagebank.
Damit geht der Richter auf das ein, was in dem Prozess immer wieder angeklungen ist: Das Opfer habe die Familie durch die Vorwürfe zerrüttet. So sehen das offenbar mehrere Angehörige – davon ist vor dem Landgericht immer wieder zu hören. Sie wollen keine Aussagen machen. Die unheilvolle Beziehung und deren Folgen stattdessen unter sich klären. Ohne Polizei. Ohne Ermittlungen. Ohne den Prozess, der letztendlich ein dunkles Geheimnis ans Licht der Öffentlichkeit zerrt. Und an dessen Ende es für den Richter keinen Zweifel gibt: „Das Opfer sagt die Wahrheit, es wurde jahrzehntelang missbraucht. Das ist klipp und klar.“Der heute 61 Jahre alte Stiefvater wird zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Er muss zurück in die Justizvollzugsanstalt, aus der er vorgeführt wird. „Massiv strafmildernd“habe sich sein Geständnis ausgewirkt, heißt es.
Gegenstand des Urteilsspruchs ist allerdings wohl nur ein kleiner Teil der verübten Straftaten. Hunderte Fälle hatten die Ankläger zusammengetragen: Viele Male soll der Mann in Illertissen und Altenstadt Sex mit seiner Stieftochter gehabt und sie dabei auch am Darmausgang verletzt haben. Der erste Übergriff ereignete sich 1997, als das Kind gerade einmal sieben Jahre alt war. Das Martyrium soll sich eine lange Zeit fortgesetzt haben. Erst 2015 offenbarte sich das Opfer den Behörden. Die junge Frau belastete ihren Stiefvater schwer. Andere Familienmitglieder schwiegen dazu: Auch die Schwester des Opfers, die selbst Ziel von sexuellen Attacken gewesen sein könnte, wie in dem Prozess von Zeugen angedeutet wurde. Bis zum Beginn der Verhandlung sagte auch der Angeklagte nichts, zumindest bis zum Beginn des Prozesses. Am ersten Tag legte er über seine Anwälte – von denen einer in der Zeit zwischen dem zweiten und dem dritten Verhandlungstermin gestorben ist – ein Geständnis ab. In einem Gespräch mit den Prozessbeteiligten wurde das Strafmaß festgelegt, von einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten bis hin zu fünf Jahren war die Rede.
Am zweiten Prozesstag beschrieb sich der Angeklagte, der seit August in Untersuchungshaft sitzt, als körperlich schwer kranken Mann. Darum ging es gestern: Ein Psychologe legte ein Gutachten vor. Und das brachte Widersprüche mit sich: Der Angeklagte leide seit den 1980erJahren wegen schlechter Durchblutung an „massiven Erektionsstörungen“, war zu erfahren. Er verspüre