Das Töten wurde quasi als gute Tat gesehen
Rundfunk arbeitete. Das Morden ist damals etwa 40 Jahre her. Aber niemand weiß etwas Genaues darüber. Dabei muss es zu diesem Zeitpunkt noch Zeitzeugen geben. Der junge Mann sieht sich herausgefordert, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Recherche, die, wie sich noch zeigen soll, alles andere als einfach wird.
Mader liest sich intensiv in das Thema ein. Euthanasie bedeutet in etwa „schöner Tod“. Ein mehr als zynischer Begriff. Denn bei der Euthanasieaktion der Nazis wurden psychisch Kranke und Behinderte vergast, mit Medikamenten getötet, oder man hungerte sie mit einer Null-Fett-Diät binnen drei Monaten zu Tode. Das Ganze wurde quasi als gute Tat angesehen, weil man diese Menschen ja von ihrem Leid „erlöste“. Kaufbeuren und Irsee waren ein Zentrum der Euthanasie im Süden Bayerns.
Mader stellt schnell Folgendes fest: Über Schwaben liegt damals ein Mantel des Schweigens, was dieses Thema angeht. Ein Beispiel: Anlässlich des 800-jährigen Bestehens des Klosters Irsee im gleichen Jahr – 1982 – wird eine Festschrift publiziert. Mit einem Umfang von immerhin 350 Seiten. Und einem eigenen Kapitel über die Heil- und Pflegeanstalt Irsee, die von 1849 bis 1972 bestand. „Doch in dieser Festschrift wird mit keinem Wort die ,Aktion Gnadentod‘ erwähnt“, erzählt Mader. Eine Symptomatik, die sich damals in Schwaben immer wieder feststellen lassen wird.
Widerborstig zeigt man sich auch beim Landgericht Augsburg, das Mader die Einsicht in alte Akten zum Euthanasieprozess, der 1949 stattfand, zunächst einfach nicht gestattet. In diesem Prozess war der Anstaltsdirektor von Kaufbeuren und Irsee, Dr. Valentin Faltlhauser, wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Nach wiederholtem Aufschieben der Vollstreckung der Gefängnisstrafe wegen Haftunfähigkeit erfolgte üb- rigens im Dezember 1954 die Begnadigung Faltlhausers durch den bayerischen Justizminister.
Erst als Mader sich noch ein Schreiben in der Redaktion des Bayerischen Rundfunks besorgt, wonach er eben ganz offiziell im Auftrag des Senders recherchiert, öffnen sich die Pforten ins Archiv des Gerichtes.
Mader wird auch im Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren vorstellig. Dort hat erst zwei Jahre zuvor ein noch recht junger Ärztlicher Direktor das Ruder übernommen: Dr. Michael von Cranach. In diesem Fall gestaltet sich die Zusammenarbeit anders. „Er unterstützte mein Anliegen von der ersten Minute an“, sagt Mader. „Ich durfte alle Quellen und Jahresberichte einsehen, die ich wollte, das muss ich deutlich hervorheben.“
Parallel dazu macht sich Mader auch in den Ostallgäuer Dörfern auf Spurensuche. Er will Angehörige ausfindig machen, deren Verwandte in Kaufbeuren oder Irsee ermordet worden waren. Wie den Mann, dessen Mutter aus der Anstalt abtransportiert und vergast worden war. „Die Begegnung mit ihm war anrührend und zugleich verstörend.“Er hatte sein ganzes Leid in sich verschlossen, 41 Jahre lang, „bis ich ihn nach dem Lebensweg der Mutter fragte“. In Kaufbeuren und Umgebung erinnern sich 1982 noch Menschen an folgende Begebenheiten: Eine Frau weigerte sich, ihr behindertes Kind nach Kaufbeuren zu schicken. Sie sagte: „Da bringen sie es um.“Schaurig der Bericht über einen Vater, der, erst als er erfuhr, dass dort behinderte Kinder getötet werden, sein Kind in die Kaufbeurer Anstalt ablieferte. „Offenbar wollte er es loswerden“, vermutet Mader. Wie er letztlich herausfindet, wurden 1200 bis 1600 Menschen in Kaufbeuren und Irsee ermordet – durch Verhungern und Medikamente. Dazu kommen noch knapp 700, die abtransportiert und woanders vergast wurden.
Es existierte zudem noch eine brisante Liste von Beschäftigten der Klinik, die verdächtig waren, Mithilfe beim Töten geleistet zu haben. Mader besorgt sich diese Liste – und klappert die Adressen ab. Eine Arbeit, die Mut erfordert. In einem Ostallgäuer Dorf klingelt er an einem Haus, eine etwa 70-jährige Frau kommt heraus und Mader stellt sein Ansinnen vor. „Ich weiß noch genau, wie es war. Es war ein schöner Tag, später Nachmittag. Die Frau erstarrt und blickt entsetzt. Betont kurz: ‚Dazu sage ich nichts‘. Dreht sich um und schließt einfach die Tür.“Eine andere Frau, ebenfalls um die 70, beendet das Gespräch mit den Worten: „Ach, da wird man doch nur durch den Dreck gezogen.“
Ein Einziger, der auf der Mithelferliste verzeichnet ist, lässt ein kurzes Gespräch zu. Er sagt: „Natürlich sah man, dass das Krematorium auf dem Kaufbeurer Anstaltsgelände fast nicht mehr stillstand. Dass man den einen oder jenen auf Entzugskost setzte.“Damit er verhungerte. Die vom damaligen Anstaltsdirektor Valentin Faltlhauser entwickelte Null-Fett-Diät führte binnen kurzer Zeit zu Hungerödemen, und die Betroffenen starben daran. „Wir wollten es aber alles nicht genauer wissen“, erinnert sich der Zeitzeuge. „Man wollte einfach nur zur Arbeit gehen.“
Mader fasst seine Kenntnisse zusammen. Sie werden im November 1982 in einer einstündigen Sendung im Bayerischen Rundfunk präsentiert. Fast zur gleichen Zeit erscheint sein kleines Büchlein „Das erzwungene Sterben“, das im Gefolge insgesamt fünfmal aufgelegt wird. Bei der Buchvorstellung in der katholischen Kaufbeurer Pfarrei St. Peter und Paul am 20. November ist der Saal überfüllt, berichtet Mader. Unsere Zeitung vermeldet damals: „Wirkliches Grauen machte sich auch bei den vielen, meist jugendlichen Zuhörern breit, was sich am Ende dieses Vortragsabends von Ernst T. Mader, Blöcktach, in betretenem Schweigen zeigte.“
Mader erinnert sich, dass die Stimmung Anfang der 1980er Jahre völlig anders ist als heute. „Es gab einen großen Generationenunterschied. Die Jungen, die wissen wollten, was während der Nazizeit passiert war. Und die Älteren, von denen die meisten nichts hören wollten.“
Maders Rechercheergebnisse sorgen jedenfalls für erhebliche Furore. Immer mehr Medien berichten darüber. Doch das Echo ist für den jungen Lehrer nicht immer angenehm. „Auf der Straße wurde ich aus dem Nichts heraus von einem Bierfahrer der Brauerei Irsee, selbst ein Irseer, beschimpft, warum ich denn sein Dorf so in den Dreck ziehen würde.“Ein Kaufbeurer Buchhändler berichtet ihm, dass er anonyme Drohungen erhalten habe. Er soll „diesen Dreck nicht ins Sortiment nehmen“. Das Ganze gipfelt dann in einem Ereignis, das sich knapp ein Jahr später, im September 1983 abspielt: Mader will auf der Kaufbeurer Kleinkunstbühne Podium