Was ist uns noch heilig?
Wir leben im Zeitalter der Entzauberung der Welt – einerseits. Andererseits ist der Glaube weltweit noch immer ein mächtiges Mittel der Ideologisierung. Warum die Bindung an das Heilige gar kein Ende finden kann
Nein, das Smartphone kommt nicht vor. Aber als die Hamburger BATStiftung für Glaubensfragen eine repräsentative Umfrage in Deutschland zur Frage „Was ist Ihnen heilig?“durchführte, war das Ergebnis erschütternd. Für die Evangelische Kirche in Deutschland jedenfalls. Die resümierte die Ergebnisse auf ihrer Publikums-Homepage evangelisch.de nämlich so: „Die Familie steht ganz oben – Religion aber nicht. ‚Gott‘ kam nicht vor.“Zahlen? Heilig also in Prozent ist den Deutschen: für 73 Prozent die Familie, für 57 Prozent die Gesundheit, für 53 Prozent die Kinder, für 52 Prozent der Partner… – und für, nun ja, 13 Prozent ihre Religion.
Das ist jetzt vier Jahre her. Und wahrscheinlich haben sich die Durchschnittswerte des Heiligen in Deutschland seitdem etwas verschoben, zurück ins Religiöse, zurück zu Gott – auch wenn eine aktuelle Allensbach-Umfrage ergab, dass die Bedeutung des christlichen Glaubens in der Gesellschaft stetig abnehme. Denn als Migranten kamen Menschen aus Weltregionen hinzu, deren Kulturen die Abwendung vom Religiösen noch nicht vollzogen haben, wie es im aufgeklärten Westen so umfassend erscheint. Und so treffen im Zeitalter von Wissenschaft, Fortschritt und Kapitalismus hierzulande Demonstranten für das „christliche Abendland“auf religiöse Migranten in einer weitgehend gottlosen Welt – und gegen die ziehen wiederum selbst ernannte Gotteskrieger aus der Ferne in einen als „heilig“bezeichneten Krieg.
Aber: Wenn die eigene Gesundheit heilig sein kann, klassisch Gott, aber auch der Krieg – was meinen die jeweiligen Menschen eigentlich noch mit diesem Wort?
Es gibt eine große Erzählung, die Welten hier sauber trennt. Beginnend mit dem Philosophen David Hume, geprägt vor allem vom Soziologen Max Weber, ist es die Geschichte von der „Entzauberung der Welt“. Demnach schreitet die Rationalisierung des Menschen immer weiter fort. Er sieht sich immer weniger in einem über ihn und die Grenzen seines Lebens hinaus weisenden Zusammenhang wieder, dafür immer mehr, immer nüchterner in Zweck-Mittel-Verhältnisse verstrickt – optimierbare Lebensgestaltung statt transzendenter Schicksalsglaube. Hatte der Mensch also einst an einem ewigen Heiligen An- teil, das ihn selbst auch zum heiligen Anteil machte, so bleibt davon nach und nach in der Moderne nur noch die Heiligkeit des eigenen Lebens. Und begonnen hat dieser Prozess gemäß der Entzauberungserzählung nicht gegen die Religionen, sondern in der entzauberten Welt der Moderne – über ihn hinaus weisen höchstens noch die Familie oder die Freunde. Und wer den Krieg gegen diese Moderne im Namen des Glaubens führt, steht noch in den Machtzusammenhängen, die aber auch bereits Verfallserscheinung sind, ein letztes Aufbegehren gegen das allmähliche und unweigerliche Verschwinden des Religiösen. Alle zusammen also unterwegs in eine religionslose Zukunft. Für die Glaubensskeptiker, die sich daran nun freuen zu können glauben: Weber zumindest tat das nicht – er verband damit auch eine tiefe politische Resignation, Welt und Staat nur noch geprägt von Machtgepoker. Vielleicht hätten wir im Ideologischen das Schlimmste hinter uns, aber besser würde es auch nicht …
Aber gegen diese mächtige Entzauberungserzählung, die im großen Bogen eine stete Entwicklung durch die Geschichte sieht, gibt es jetzt heftigen Einspruch. Und daraus wiederum entwickelt sich für das Verständnis unserer heutigen Zeit eine spannende Perspektive – mit bedenklichen Folgen. „Die Macht des Heiligen“heißt das Buch des in Berlin und Chicago lehrenden Theologen und Menschenrechtsexperten Hans Joas. Nein, es ist nicht einfach eine zu erwartende Rehabilitationsschrift des Glaubens. Joas versteht die Geschichte des Heiligen gerade in der Moderne als eine noch immer im besten wie im schlechtesten Sinn lebendige. Und das muss auf den ersten Blick eben gar nichts mit explizit sogenannten Religionen zu tun haben.
Zum Beispiel und historisch sofort einleuchtend: Absolutistische Herrscher haben sich dereinst noch auf ihrem Thron von Gottes Gnaden ihrer heiligen Macht versichert; totalitäre Staaten, wie die Sowjetunion oder der Nationalsozialismus, haben diese Macht in eigenen Weihe- und Magie-Ritualen gleich direkt auf Volk und Führer bezogen. Aber auch zur Religion: Findet sich nicht etwa in den Erklärungen der allgemeinen Menschenrechte, basierend auf dem Begriff der unantastbaren Würde, ein klassisch religiöses Motiv wieder? Denn dieser allumfassende Humanismus als Ideal bettet den Menschen gerade zurück in Zusammenhänge eines göttlichen Blicks. Modernisiert und bei Hans Joas auch mit dem Moralphilosophen John Dewey formuliert, geht es hier um ein „die ganze Menschheit umfassendes Gefühl gemeinsamer Teilhabe an den unvermeidlichen Ungewissheiten der Existenz“. Transzendenz in der Moderne.
Das Heilige und seine Macht leben, wandeln sich in vielen Ausprägungen und verleihen damit übermenschliche Bedeutungen. Was bedeutet
Suhrkamp, 527 S., 35 ¤ Wer Kammermusik des gelösten und gefühlvollen Franz Schubert versammelt haben möchte, der greife nach dieser Aufnahme in Starbesetzung: Anne-Sophie Mutter, Daniil Trifonov, dessen Klavieraufnahmen und Konzerte dem Hörer seit geraumer Zeit den Atem rauben, sowie Maximilian Hornung, der Cellist aus Augsburg. Die hoffnungsarme bis tragische Seite Schuberts ist ausgeblendet; die ausgewählten Werke und damit ihr Interpretationsstil bewegen sich im Lichten, Leichten, Flüssigen. Im berühmten „ForellenQuintett“ergänzen sich Mutter und Trifonov aufs Durchsichtigste in ihrer gestochenen Artikulation; die Forelle schwimmt unsterblich in glitzerndem Gebirgsbach – bei tragender Tiefenströmung durch Hornung und Roman Patkolo (Kontrabass). Im „Notturno“(D 897), mehr noch im Ständchen „Leise flehen meine Lieder“, greift sich musikalischer Lokalkolorit Raum: Drücker, Schweller, Glissandi von Mutters Geige verweisen wehmütig auf Wiener Idiom. (rh) ★★★★✩
(DG/Universal)