Vier Mal findet die Aktion in der Pauluskirche statt
allerdings ein Novum: 350 nach Dioptrien vorsortierte Brillen wurden in den wenigen Minuten, die sie bis zum Abtransport in die Pauluskirche am Portal des Rathauses standen, entwendet. Der Dieb ließ nur die vier leeren Kartons zurück.
Wer ein Interesse daran hat, für Bedürftige Gespendetes zu entwenden, darüber rätseln Roth und seine Helfer. „Die Brillen sollten umgeladen werden, und bis ich das Auto aus der Tiefgarage holte, waren sie weg“, berichtet der Augenarzt, der jährlich etwa 3000 gespendete Brillen bei der Ulmer Vesperkirche ausgibt. Einmal pro Woche ist er während deren Laufzeit in der Pauluskirche.
Nach der Bedürftigkeit wird am Tisch im Foyer der Pauluskirche nicht gefragt. Wichtig sind dagegen Aufklärung und Ratschläge: Ein Mann beispielsweise will von Roth wissen, ob er denn eigentlich kurzsichtig oder weitsichtig sei. Er könne nämlich Kleingedrucktes bestens lesen, bei Entfernungen ab etwa drei, vier Metern verschwimme aber das Bild vor seinen Augen. Der Augenarzt, der nur gespendete Brillen im Bereich leichter bis mittlerer Sehschwächen ohne Untersuchung erklärt dem Kurzsichtigen seinen Sehfehler und gibt ihm Tipps, bei welcher Dioptrienstärke der Mann suchen soll. Als ein anderer Bedürftiger berichtet, er sehe vor dem Essen schlechter als danach, wird ihm dringend nahegelegt, überprüfen zu lassen, ob er nicht an Diabetes leidet.
„Darf ich die behalten?“, fragt eine Frau, die – wie sie berichtet – nach einer Augenoperation getönte Gläser braucht und die in einer Kiste ein passendes Modell gefunden hat, mit dem sie gut sieht. „Nehmen Sie, die ist schon Ihre!“, freut sich Roth, und die Frau steckt die Brille glücklich ins Etui.
Bunte Bügel und ganz schlichte, außergewöhnliche Formen, die den Träger ein bisschen wie John Lennon aussehen lassen, ultraleichte oder futuristische Gestelle: Manch einer, der sich gestern Mittag in der Pauluskirche eine Sehhilfe suchte, war stolz darauf, ein teurer Designer-Modell erwischt zu haben. Vor allem aber ging es um die passenden Gläser. Da galt es, auch gespendete Brillen mit übergangslosem Einausgibt, schliff für Fehlsichtige zuzuordnen, die gleichzeitig weit- und kurzsichtig sind.
„Jede Brille spiegelt das Schicksal ihres Trägers“, sagt Roth und greift nach einer Brille, deren Gläser ihm sagen, dass der Vorbesitzer schielte. „Man kann viel über die Menschen ablesen, wenn man Brillen in den Händen hält: über das Alter und Erkrankungen zum Beispiel“, erklärt der Augenarzt. Oder eben auch über ihre individuellen modischen Vorlieben, über die allerdings nur die Gestelle eine ganze Menge verraten. Stefan Behnisch ist der Sohn des Architekten Günter Behnisch. Dieser wurde 1972 weltweit bekannt mit dem Bau des Stadiondaches im Münchner Olympiapark. Am Donnerstag, 18. Januar, spricht Stefan Behnisch von „Behnisch und Partner Architekten“aus Stuttgart um 20 Uhr im Einstein-Haus am Kornhausplatz (Club Orange). Behnisch ist der Meinung, dass Architektur in einer Gesellschaft, in der persönliche Freiheit und die freie Meinungsäußerung keine Rolle spielen, nichts Gutes bewirken kann. Mit welchen demokratischen Ansätzen und Zielen Behnisch seine Architektur verbindet, zeigt ein Querschnitt aus seiner Arbeit. Vor dem Vortrag wird um 18 Uhr der Film „Richard Deacon“im Lichtburg Kino gezeigt. Deacon zählt zu den wichtigsten Gegenwarts-Bildhauern. (az)