Die große Gereiztheit
Der Absturz von SPD-Hoffnungsträger Schulz oder die Debatte um eine Flüchtlingsdoku – Bernhard Pörksen zufolge leben wir in Zeiten „kollektiver Erregung“. In einem Buch schlägt der Medienwissenschaftler einen Ausweg vor
Herr Pörksen, was hat Sie zuletzt empört?
Empört? Da fällt mir im Moment nichts ein. Aber schockiert hat mich der beispiellose Absturz von Martin Schulz. Warum?
Weil dieser Absturz des nun zurückgetretenen SPD-Chefs und Kanzlerkandidaten – bei aller berechtigten Kritik an dem Zaudern von Martin Schulz, seinem Zickzackkurs und seinen Wortbrüchen – noch etwas anderes zeigt: nämlich den Autoritätsverlust in Zeiten der totalen Transparenz. Alles, wirklich alles an internen Absprachen wurde bekannt. Und diese Totalausleuchtung der Hinterbühne macht langfristige Politik sehr schwer. Autorität pulverisiert, weil alles sichtbar wird. Aber darf ich zurückfragen: Was hat Sie selbst aufgeregt? Mich hat sehr nachdenklich gestimmt, wie polemisch über die Flüchtlingsdoku „Malvina, Diaa und die Liebe“im Kinderkanal KiKA debattiert wurde. Müssen wir uns an Entgleisungen, wie sie im Magdeburger Landtag zu hören waren, gewöhnen? Dort musste eine Sitzung unterbrochen werden, nachdem ein AfD-Abgeordneter gesagt hatte: „Dieser KiKA sollte eventuell auch in Ficki-Ficki-Anleitungs-TV umbenannt werden.“
Ein symptomatischer Fall, weil er zeigt: Hier verschieben sich die Grenzen des Sagbaren; die Pöbelei zieht ins Parlament ein.
Auch mit derlei bewussten Tabubrüchen bindet die AfD ihre Anhänger und kann sich als Opfer stilisieren. Wird diese oft beschriebene, überaus durchsichtige Strategie langfristig aufgehen?
Sie funktioniert, wenn Medien dieses Stöckchen-Spiel mitmachen, bereitwillig die Provokationen aufgreifen – und sich mit maximalem Furor erregen. Das verstärkt nur die Wut auf die jeweils andere Seite. Und dann können sich Populisten die Hände reiben.
Täuscht der Eindruck oder kommen Medien gegen diese Strategie der beständigen Tabubrüche nach wie vor mit sachlichen Argumenten kaum an?
Ich wäre nicht so pessimistisch. Aber es stimmt: Aggressiver Populismus fordert eine Rückbesinnung auf die Kerntugenden des guten Journalismus – auf die nüchterne, sachliche Analyse. Und die Entlarvung der Provokationsstrategie selbst.
Wie groß ist eigentlich die Bevölkerungsgruppe, die die Presse für „Lügenpresse“und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk für „Staatsmedien“hält; die im Internet Fake News verbreitet und Hasskommentare schreibt?
Die Befunde schwanken. Je nach Befragung und abhängig von aktuellen Stimmungen und Reizthemen sind es zwischen 17 und 20 Prozent, die dem „Lügenpresse“-Gerede glauben.
Wird dieser Gruppe unverhältnismäßig viel öffentliche, mediale Aufmerksamkeit zuteil?
Nein. Denn tatsächlich es um ein Thema von hoher Relevanz. Wenn Menschen den klassischen Medien nicht mehr vertrauen, sich in ihre Milieus zurückziehen, dann verliert das große öffentliche Gespräch seine Basis, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt. Die fatalen Folgen einer zersplitterten Öffentlichkeit lassen sich derzeit in den USA beobachten. Ihre Kollegen vom Mainzer Institut für Publizistik haben kürzlich in einer Studie festgestellt: Der Anteil der Bundesbürger, die den Medien prinzipiell kaum Glauben schenken, ist 2017 im Vergleich zum Vorjahr gesunken – von 22 auf 17 Prozent. Die „Lügenpresse-Hysterie“ebbe wieder ab, sagte Professor Christian Schemer. Teilen Sie diese Ansicht?
Im Konkreten schon, nicht jedoch in der langen Linie. Denn ich habe eine andere Forschungsperspektive und würde daher davor warnen, einzelne Erhebungen überzubewerten. Natürlich gibt es – stimmungs- und themengetrieben – Schwankungen. Und im Moment verliert beispielsweise das gerade noch dominierende Flüchtlingsthema seinen Reizcharakter. Was mich jedoch interessiert, ist die gewaltige Verschiebung der gesamten Informationsarchitektur im digitalen Zeitalter. Und wenn man derart grundsätzlich ansetzt, dann sieht man: Die Deutungsmacht von Journalisten wird weiter schwinden, weil Autorität so angreifbar geworden ist wie kaum jemals zuvor.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass wir uns in einem „Übergang von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie“befänden. Was genau meinen Sie damit? Und: Wie gefährlich ist das für unsere Demokratie?
Ich meine damit, dass heute – und das ist eigentlich eine grandios gute Nachricht – auf einmal alle eine Stimme haben, sich barrierefrei zuschalten können. In der Mediendemokratie alten Typs waren mächtige Gatekeeper in Gestalt von Journalisten zentral. Sie entschieden am Tor zur öffentlichen Welt, was als relevant gelten konnte. In der Empörungsdemokratie ist das gerade noch zur bloßen Reaktion verdammte Publikum selbst zum mächtigen Player geworden. Anja Reschke, Moderatorin des politischen TV-Magazins „Panorama“, sagte in einem Interview, dass Sie sich an die heftige Kritik von rechts gewöhnt habe. Es bringe nichts, ständig auf die sozialen Netzwerke zu starren.
Das Ausblenden und Ignorieren ist sicher individuell eine gute Idee. Aber gesellschaftlich braucht es eine andere Lösung.
Sie haben da einen Vorschlag, dazu gleich mehr. Zuvor aber noch: In sozialen Netzwerken floriert das „Geschäft mit der Desinformation“, wie Sie es nennen. Wer sind die Gewinner?
Es gibt zwei Gruppen von Gewinnern. Zum einen diejenigen, die mit Fake News Geld verdienen, dern im Letzten Bildungsoptimist. Und doch ist für mich die aktuelle Entwicklung, das Ausmaß an Wut und Hass, eine Art Aufruf zur Einmischung und Aufklärung – auch von wissenschaftlicher Seite. Wir müssen uns Gedanken machen, wie sich öffentliche Kommunikation respektvoller gestalten lässt. Der Weg aus der Erregungsspirale führt für Sie über die „redaktionelle Gesellschaft“. Was soll das sein?
Das ist eine Gesellschaft, in der die Ideale des guten Journalismus zur Allgemeinbildung gehören. Dazu zählen: die wahrheitsorientierte Berichterstattung, die sorgfältige Prüfung von Quellen, das Wissen um die verführerische Macht von Vorurteilen. Ich zeige, wie diese Bildungsutopie ganz konkret umgesetzt werden kann.
Die Allgemeinheit soll journalistische Ideale beherzigen? Ist das nicht völlig unrealistisch?
Wieso? Natürlich brauchen Bildungsprozesse Zeit. Aber warum nicht darauf setzen? Bevormundung und eilig verabschiedete Anti-HassGesetze sind keineswegs die bessere Lösung. Überdies erleben wir eine Medienrevolution, die eine gewaltige Herausforderung darstellt. Und ganz unabhängig von meinen Vorschlägen und meinem Buch: Wir müssen in solchen Zeiten das Visionieren, das ganz Anders- und NeuDenken wieder lernen.
Sie schlagen auch ein eigenes Schulfach „für die Erziehung zur Medienmündigkeit“vor. Dabei gibt es Medienunterricht in unterschiedlichen Formen doch seit Jahrzehnten ...
Das stimmt. Aber es fehlt, bedingt durch das föderalistische Klein-Klein in den einzelnen Bundesländern, die verbindende Idee, das größere Bild einer ethisch-moralischen Zielvorstellung. Hier braucht es, neben der Orientierung an technischen Fähigkeiten, eine leidenschaftlich geführte Wertedebatte, die über das floskelhafte und schrecklich allgemein klingende Kompetenzgerede der Medienpädagogik hinausgeht. Sehen Sie denn das Thema Bildung, zu dem auch der Medienunterricht gehört, ausreichend gewürdigt von der möglichen, baldigen GroKo?
Sagen wir es so: Ein leiser Abschied von der föderalistischen Selbstblockade im Falle von Bildungsanstrengungen, die für die gesamte Gesellschaft bedeutsam sind, wird im Koalitionsvertrag zumindest angedeutet. Alles hängt davon ab, wie die angekündigte Bildungsoffensive dann konkret ausgestaltet wird. Interview: Daniel Wirsching Bei ARD und ZDF fühlen sie sich in diesen Tagen vermutlich wie Schüler kurz vor der Zeugnisvergabe: Monatelang hat die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, kurz KEF, den Finanzbedarf der öffentlich-rechtlichen Sender überprüft; am Montag nun legt sie ihren Bericht vor. Dann zeigt sich, ob ARD und ZDF ihre Hausaufgaben gemacht haben, sprich: ob ihre bisherigen Sparbemühungen ausreichend sind.
Ende Januar hatte bereits ein Artikel der Bild für Aufregung gesorgt – öffentlich wie innerhalb der ARD. So hatte das Blatt unter Verweis auf einen „bislang nicht öffentlichen Bericht“der KEF geschrieben, dass bei den Prüfern völliges Unverständnis über die unterschiedliche Arbeitseffizienz der ARD-Sender herrsche. Radio Bremen produziere pro Mitarbeiter im Bereich Hörfunk „mit 13105 Sendeminuten fast dreimal so viel wie die Kollegen des WDR (4645) und des Bayerischen Rundfunks (4936)“. „Hier werden munter Äpfel mit Birnen verglichen“, sagte der Vorsitzende der ARD-Finanzkommission und BRVerwaltungsdirektor Albrecht Frenzel und verwies auf die Unterschiedlichkeit der Programme: „Eine Minute Musik in einer Popwelle ist nicht vergleichbar mit Hörspiel, Feature oder aufwendig produzierter, vielfältiger Regionalberichterstattung“bei BR oder WDR.
Eine andere vorab bekannt gewordene Erkenntnis aus dem Berichts-Entwurf der KEF bestätigt die Kritiker allerdings: Die Finanzexperten sind der Ansicht, dass ARD und ZDF einen höheren Finanzbedarf angemeldet haben als nötig. Daher werde sich ein Einnahmeüberschuss von gut einer halben Milliarde Euro ergeben. BR-Intendant Ulrich Wilhelm, seit Januar ARD-Vorsitzender, ist dagegen der Ansicht: Der Rundfunkbeitrag von derzeit 17,50 Euro pro Monat, den alle Haushalte zu zahlen haben, muss ab 2021 angehoben werden, um die Teuerungsrate auszugleichen.
Die Frage ist jetzt, wie die Politik darauf reagieren wird. Sie nimmt den KEF-Bericht als Grundlage für ihre Entscheidung: Denn die Ministerpräsidentenkonferenz befindet über die Höhe des Rundfunkbeitrags; die Landesparlamente segnen sie ab. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Angesichts der KEF-Berechnungen könnte es zu einer Gebührensenkung kommen. Oder aber man belässt alles, wie es ist. Medienpolitiker haben sich in den letzten Monaten parteiübergreifend dafür ausgesprochen, dass der Beitrag in den nächsten Jahren möglichst „stabil“bei 17,50 Euro bleiben sollte.
Das derzeitige Prozedere, heißt es aus ARD-Kreisen, erinnere an orientalische Basare: Die Sender forderten die Summe X, die KEF errechne den Bedarf Y, und am Ende treffe man sich in der Mitte.