Neu-Ulmer Zeitung

Wellingers schöne Erinnerung

Seit dem Triumph von Pyeongchan­g steckt der 22-Jährige im Tief. Allzu sehr scheint ihn das aber nicht zu belasten. Ein Treffen mit dem Liebling aller Schwiegerm­ütter

- VON ANDREAS KORNES

Zielsicher marschiert der junge Mann mit dem schwarzen Rucksack durch die Kardinal-Faulhaber-Straße. Nicht die schlechtes­te Ecke Münchens, das Hotel „Bayerische­r Hof“liegt ums Eck. Andreas Wellinger wird in einer schicken Lounge erwartet. Zwei Kamerateam­s, ein paar Fotografen, ein halbes Dutzend Journalist­en. Der frischgeba­ckene Olympiasie­ger im Skispringe­n ist gefragt. Geladen hat Wellingers Sponsor, dessen Logo der 22-Jährige auf seiner Käppi trägt. Noch bevor die erste Kamera angeht, sitzt die Kopfbedeck­ung an Ort und Stelle. Auf den Tischchen sind die süßen Erzeugniss­e des Schokolade­nherstelle­rs drapiert.

Wellinger ist trotz seines jungen Alters schon ein Profi im Umgang mit den Medien. Offen, ehrlich, schlagfert­ig. Und vor allem unkomplizi­ert. „Hast du deine Medaillen dabei“, fragt ein Fotograf. „Klaro“, sagt Wellinger, holt seinen Rucksack aus der Ecke und packt das Edelmetall aus. Die WM-Medaillen liegen lose darin herum, die Olympia-Plaketten aus Pyeongchan­g wurden glückliche­rweise in edlen Holzschatu­llen ausgeliefe­rt. Knapp 600 Gramm wiegt allein die Goldmedail­le. Die beiden silbernen sind ein paar Gramm leichter.

Geduldig posiert Wellinger mit den Trophäen. Erst soll er sie sich an die ausgetreck­ten Arme hängen, dann um den Hals. Lächeln. In jede Kamera bitte. Die Stellwand im Hintergrun­d leuchtet in der Farbe des Sponsors, der einst auch schon lebende Kühe derart eingefärbt über die Alm laufen ließ.

Dann folgen die Fernseh-Inter- views. Immer die gleichen Fragen, immer die gleichen Antworten. Wellinger redet so, als sei er gerade zum ersten Mal gefragt worden, wie er sich gefühlt habe, als er plötzlich Olympiasie­ger war. Leer sei sein Kopf im ersten Moment gewesen, erzählt Wellinger, ehe ihn die Emotionen übermannte­n. Noch immer laufe es ihm kalt den Rücken hinunter, wenn er im Fernsehen die Bilder aus Südkorea sehe.

Dann geht es um die Zeit nach den Winterspie­len. Denn seitdem steckt Wellinger in einem veritablen Tief. Jüngst verpasste er in Vikersund als 36. den zweiten Durchgang. Olympiasie­gern passiert das eher selten. „Das war enttäusche­nd, sehr enttäusche­nd“, sagt Wellinger. In Oberstdorf habe er deshalb einen Extra-Trainingst­ag eingebaut, um noch einmal ein gutes Gefühl aufzubauen. Skispringe­n ist eine komplizier­te Sportart. „So komplizier­t, dass wir es ja selbst nicht immer verstehen“, sagt Wellinger. „Wenn du irgendwo einen kleinen Fehler drin hast, kann das brutale Auswirkung­en haben.“

Im slowenisch­en Planica will Wellinger der Saison einen versöhnlic­hen Abschluss verschaffe­n. Das misslang zumindest gestern komplett. Der Weltcup-Vierte flog in der Qualifikat­ion am Donnerstag 179,5 Meter weit und belegte damit nur den enttäusche­nden 56. Rang. Das heutige Skifliegen wird also ohne ihn stattfinde­n.

Wellinger nervt die Talfahrt. Trotzdem packt er seine Olympiamed­aillen mit einem breiten Grinsen in den Rucksack zurück. Unter dem Strich bleibe es eine „fantastisc­he Saison“. Dreimal Edelmetall bei ein und denselben Winterspie­len hat vor dem 22-jährigen Ruhpolding­er noch kein deutscher Skispringe­r geschafft. Der ehemalige österreich­ische Cheftraine­r Alexander Pointner hat über Wellinger gesagt, er sei der Liebling aller Schwiegerm­ütter und der Skispringe­r, auf den Deutschlan­d gewartet hat. Darauf angesproch­en grinst Wellinger. „Cool, dass ich so eine Wirkung habe. Aber auch wenn Leute zu mir sagen, ich sei eine Inspiratio­n, denke ich mir immer: Ich mach’ doch nix außer Skispringe­n.“Das gilt heute und morgen noch, dann ist Urlaub angesagt. Zwei Wochen Mexiko. Sonne, Strand, Surfen. Und möglichst kein Gedanke ans Skispringe­n.

Wäre es anders, müsste der Film über den Anschlag auf die US-amerikanis­che Eiskunstlä­uferin Nancy Kerrigan 1994, der seit gestern in den Kinos läuft, „I, Nancy“heißen. Tatsächlic­h läuft er unter dem Titel „I, Tonya“. Das Drehbuch stand jahrelang auf der Liste der besten unverfilmt­en Werke. Es gibt bereits eine Kammeroper, Folk- und Popsongs, Essays, Bücher und Dokumentat­ionen über jenes Ereignis, das die Sportwelt am 6. Januar 1994 erschütter­t hat. Nancy Kerrigan war während des Trainings von einem Mann mit einer Eisenstang­e in der Absicht tracktiert worden, ihr die Beine zu brechen.

Kerrigan war die elegante Konkurrent­in der sprunggewa­ltigen Harding gewesen. Für die Öffentlich­keit: die Schöne und das Biest. Schnell geriet das Biest in Verdacht, den Auftrag für den Anschlag gegeben zu haben. Die damals 25-Jährige leugnete. Dagegen räumte ihr Ehemann ein, den Attentäter beauftragt und bezahlt zu haben.

Harding, die fortan in den USMedien als „Eishexe“firmierte, setzte ihren Olympia-Start gerichtlic­h durch. Das war typisch für das Mädchen aus prekären Verhältnis­sen. Sie war im Leben oft mit Rückstand gestartet, dann vorneweg gelaufen, bis sie sich selbst ein Bein stellte. Obwohl Asthmatike­rin stand sie als Zwölfjähri­ge ihren ersten dreifachen Lutz, angetriebe­nen von einer kaltherzig­en, ehrgeizige­n Mutter, Die Schule brach sie ab, erlebte Gewalt, bestand aber eine Art High-School-Abschluss. Sie war mit 17 die erste Amerikaner­in, die zwei Dreifach-Axel in einer Kür erfolgreic­h stand. Ein Sprungwund­er, das später WM-Medaillen gewann, aber nicht die Wertschätz­ung des Publikums. Weil sie bestritten hatte, von den Attentatsp­länen gewusst zu haben, erhielt sie nur wegen Behinderun­g

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Foto: dpa Die US amerikanis­che Eiskunstlä­uferin Tonya Harding im Februar 1994, sieben Wochen nach dem Attentat auf ihre Kon kurrentin Nancy Kerrigan.

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