Neu-Ulmer Zeitung

Einsamkeit löst im Körper Schmerzen aus

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Beschwerde. „Wie würden Sie etwas nennen, das ansteckt, weh tut und tödlich enden kann? Ich nenne das eben Krankheit“, sagte er.

Ansteckt? Tödlich endet? Spitzer führt dafür verschiede­ne Argumente an. Untersuchu­ngen hätten gezeigt, dass Mitmensche­n auf soziale Isolation reagieren. Zieht sich ein Mensch aus seinem Freundeskr­eis zurück, folgen andere Freunde diesem Verhalten. Der Psychologe zieht dafür unter anderem das menschlich­e Einfühlung­svermögen zur Verantwort­ung: Wir spiegeln nicht nur das Verhalten, sondern auch die Gefühle unserer Mitmensche­n. Eine tödliche Gefahr geht Spitzer zufolge davon aus, dass Einsamkeit massiven Stress auslöst – und dessen Auswirkung­en sind inzwischen gut erforscht. Bluthochdr­uck, Herzkrankh­eiten, Infektanfä­lligkeit, Depression­en … all diese Faktoren mindern nicht nur die sie verkürzen auch das Leben. Diese Beobachtun­g hat auch Ruth Belzner gemacht, die Bundesvors­itzende der „Konferenz Evangelisc­he Telefonsee­lsorge“: „Durch Einsamkeit wächst die Gefahr, an Alzheimer, Fettleibig­keit, Diabetes, Bluthochdr­uck oder gar Krebs zu erkranken.“Auch Gabriele Eisinger von Pikasso.2 sieht die gesundheit­lichen Auswirkung­en: „Wenn ältere Menschen vereinsame­n, bauen sie immer mehr ab. Kognitive Fähigkeite­n gehen zurück, der Geist arbeitet nicht mehr so gut. Das ist oft der Anfang vom Ende.“

In der modernen Gesellscha­ft gibt es viele Faktoren, die in die Einsamkeit führen können. Das zeigen auch viele Zahlen. In Deutschlan­d leben rund 40 Prozent aller Menschen alleine. Das betrifft nicht nur junge Menschen, sondern viele ältere: Jeder dritte, der alleine lebt, ist älter als 64 Jahre. Die klassische Großfamili­e unter einem Dach, wie sie in den 50er Jahren noch die Regel war und wie sie von einigen zurückgese­hnt wird, ist ein Auslaufmod­ell. Stattdesse­n dominieren kleine Wohnungen die Städte. Und in den Metropolen leben immer mehr Menschen. Weltweit hat jeder zweite eine Wohnung in der Stadt, im Jahr 1950 lag der Wert noch unter 30 Prozent. Der Trend geht also zu einer kleinen Wohnung in einer großen Stadt. Frau K. fällt genau in dieses Schema. Sie wohnt alleine, ihr Sohn hat mit seiner Frau eine eigene Wohnung. Zwar wohnen sie direkt nebeneinan­der, aber KonFreund takt haben sie kaum. Die Seniorin will sich nicht in das Leben des Ehepaares einmischen: „Sie sind eine eigene Familie. Ich habe das Gefühl, dass ich da nur im Weg bin.“

Doch die Wohnsituat­ion allein macht einen Mensch noch nicht einsam. Auf der Suche nach einem Auslöser stürzt sich Manfred Spitzer in seinem Buch auf die sozialen Medien. Junge Menschen verbringen mehrere Stunden am Tag auf Facebook und Co., doch das gaukelt soziale Interaktio­n nur vor – so die These des Psychologe­n. Diese Meinung ist umstritten, denn verschiede­ne Studien belegen sowohl soziale Vor- als auch Nachteile dieser Medien. Alleine am Smartphone dürfte es also nicht liegen, dass Menschen in der Einsamkeit landen. Sonst hätten Baudelaire und Rilke bei diesem Thema kaum mitreden können.

In unserer Gesellscha­ft hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n nicht nur in der Kommunikat­ion etwas getan. Für einen Großteil der Bevölkerun­g gehört es etwa zum Alltag, jeden Tag zur Arbeit zu pendeln. Und dieser Anteil der Gesellscha­ft wird immer größer. Jeden Morgen machen sich Millionen von Menschen auf den Weg in eine andere Stadt, verbringen oftmals eine Stunde in Zug, Bus oder Auto. Unser Leben konzentrie­rt sich dadurch nicht mehr auf einen einzelnen Ort. Wir arbeiten nicht, wo wir schlafen; wir haben unsere Kollegen und Freunde nicht dort, wo unsere Familie lebt. Von einer „Zerstückel­ung“des LebensLebe­nsqualität, raums ist in diesem Zusammenha­ng die Rede. Spitzer sieht darin einen weiteren Faktor, der einsam macht: „Diese Fragmentie­rung führt zwangsläuf­ig zu größerer sozialer Isolation, was vom Erleben von Einsamkeit begleitet sein kann.“

In der modernen Gesellscha­ft sind Menschen auch spät dran, wenn es um die Gründung einer eigenen Familie geht. Männer heiraten im Durchschni­tt mit 34 Jahren, Frauen mit 31. Und auch erst in diesem Alter bringt eine Frau heute ihr erstes Kind zur Welt. Anfang der 90er Jahre waren Frauen im Schnitt mit 26 Jahren zum ersten Mal schwanger. Junge Menschen leben also länger als Singles oder kinderlose Paare. Gleichzeit­ig haben zwischenme­nschliche Handlungen in den vergangene­n Jahrzehnte­n abgenommen. Seelsorger­in Belzner sieht darin einen weiteren Auslöser für Einsamkeit: „Die Fahrkarten kaufen wir am Automaten, Kleidung kaufen wir im Internet wechseln. „Mögen die einzelnen Erlebnisse auch noch so bedeutungs­los oder kurz sein, in ihrer Gesamtheit wirken sie sich aus, wie Soziologen herausgefu­nden haben“, sagt der Psychologe. Eine gute Anschlussm­öglichkeit bieten auch Gruppen, in denen gemeinsam etwas unternomme­n wird. Das können etwa Sportverei­ne, Kirchengem­einden oder Reisegrupp­en sein. Eisinger zufolge bieten sich auch ehrenamtli­che Tätigkeite­n an: „Dabei ist man körperlich und geistig aktiv. Außerdem hat man ein gemeinsame­s Ziel, das schweißt eine Gruppe noch mehr zusammen.“

Speziell für Senioren existieren bereits viele Hilfsprogr­amme, die Menschen aus der Einsamkeit helfen sollen. So gut wie jede Stadt und Gemeinde hat einen Seniorenbe­auftragten, der alte Menschen an die passenden Angebote vermitteln kann. Das muss keine psychologi­sche Betreuung sein – oftmals organisier­en soziale Einrichtun­gen auch gemeinsame Aktivitäte­n und Ausflüge. „Einsame Senioren müssen sich nur die Hilfe suchen – wenn der erste Schritt gemacht ist, finden sie den Zugang zu den richtigen Angeboten“, sagt Eisinger.

Anders als bei älteren Menschen stehen jüngere Generation­en allein mit ihrer Einsamkeit da. Für sie gibt es keine speziellen Hilfsangeb­ote – das Problem ist weitgehend unbekannt. Andere Länder sind in diesem Punkt bereits weiter, wie das Beispiel England zeigt – dort hat die Einsamkeit eine politische Dimension angenommen. Seelsorger­in Belzner sieht auch in Deutschlan­d die Politik in der Verantwort­ung. Familienpo­litik, Arbeitsrec­ht oder die Gestaltung der Pflege hätten Auswirkung­en darauf, ob Menschen ihr Leben gut gestalten können. Aber auch Städte und Gemeinden, Kirchen und Vereine fordert sie dazu auf, Lebensräum­e zu öffnen, wo Menschen sich begegnen und mitgestalt­en können. Doch hierzuland­e ist Einsamkeit nach wie vor Privatsach­e.

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