„Militärisch ist die EU ein impotenter Zwerg“
Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, kritisiert, dass die Europäische Union aus ihrem großen Potenzial viel zu wenig macht und erklärt, wie sich das in Zukunft ändern könnte
Naumann, beim Nato-Gipfel scheint ein Streit um die Verteidigungsausgaben unausweichlich. Gerade Deutschland dürfte der Zorn von US-Präsident Trump treffen. Was steht in Brüssel auf dem Spiel?
Klaus Naumann: Der Schutz Deutschlands durch die Nato, er ist nach wie vor unverzichtbar und durch nichts zu ersetzen. Das gilt vor allem im nuklearen Bereich, Deutschland ist ja das einzige Land der Welt, das zusätzlich zum Atomwaffensperrvertrag einseitig auf Besitz und Herstellung von Nuklearwaffen verzichtet hat. Und dies in einer Welt, in der zunehmend nukleare Rüstung stattfindet, denken wir etwa an Russland. Deswegen ist zum Schutz durch die Nato und vor allem die USA keine Alternative in Sicht.
Was also droht bei dem Treffen? Naumann: Das Schlimme an der jetzigen Situation ist ja, dass US-Präsident Donald Trump sich zuerst mit den Regierungschefs der Nato-Staaten trifft und kurz darauf mit Putin in Helsinki. Das Ergebnis ist bei diesem Präsidenten nicht vorhersehbar. Wenn er wirklich vernünftig Bilanz ziehen würde, dann könnte er durchaus sagen, er habe viel erreicht, die Nato-Verbündeten haben den berechtigten Weckruf der USA gehört und sie tun jetzt mehr. Er könnte also sagen, dass das Glas halb voll ist. Er könnte aber genauso gut sagen, dass das Glas halb leer ist. Und ich befürchte, dass das der Fall sein wird. Und dann haben wir entweder das Szenario wie beim G7-Gipfel in Ottawa, dass er zuerst seine Zustimmung zur Abschlusserklärung gibt und diese dann per Twitter widerruft. Oder er sagt gleich, es gibt keinen Deal, wenn ihr nicht zwei Prozent eures Bruttoinlandsprodukts zahlt, und das schon im nächsten Jahr, dann werde ich die amerikanischen Truppen aus Europa abziehen.
Welche Folgen hätte dies für Europas Sicherheit?
Naumann: Das wäre natürlich ein Traumgeschenk für Putin, davon träumt Russland ja seit Jahrzehnten. Ich gehe aber noch immer davon aus, dass niemand die Absicht hat, Deutschland oder Europa anzugreifen, auch nicht Putin.
Das hört sich jetzt an wie der berühmte Satz von DDR-Staatschef Walter Ulbricht, dass niemand die Absicht hat, eine Mauer zu bauen. Bekanntlich kam es anders …
Naumann: Nein, ich glaube wirklich nicht, dass Putin diese Absicht hat. Er würde sich einen Mühlstein um den Hals binden, doch da hängen ja schon drei. Der eine ist die Krim, der zweite die Ukraine und der dritte Syrien. Das wird er sich nicht leisten können. Er muss ja schließlich auch mit dem entschlossenen Widerstand der Europäer rechnen, unter denen sich mit Großbritannien und Frankreich ja zwei Atommächte befinden. Deshalb würde er wohl auch keine Abenteuer in den baltischen Staaten oder in Polen riskie- ren. Doch er würde in jedem Fall das Ziel erreichen können, dass er Europa und die USA spaltet. Und er würde noch mehr versuchen, den Spaltpilz auch in die Europäische Union hineinzutragen, als dies ohnehin schon der Fall ist. Könnten die Europäer also ohne die USA auskommen?
Naumann: Nein. Die Nato ist nur funktionsfähig und gut, solange die USA dabei sind und ihre Schutzgarantie Bestand hat. Ohne die USA ist die Nato nur die halbe Miete.
Welchen Nutzen haben die USA heute noch von der Nato?
Naumann: Ich denke, Trump hat die Vorteile multilateraler Bindungen noch nicht erkannt. Er setzt ausschließlich auf bilaterale Vereinbarungen und begreift meiner Ansicht nach auch nicht ausreichend, dass die Nato für die USA nicht nur eine Last durch die zugegeben hohen Beiträge darstellt, sondern dass das Bündnis auch für ihn eine geostrategische Versicherung ist. Eine globale maritime Macht wie die USA braucht eine Gegenküste in Europa. Und die stellt die Nato dar. Das mag viele erschrecken, aber überspitzt gesagt: Die Nato hat Europa als vorgeschobenes Schlachtfeld angeboten und damit auch immer Amerika geschützt, sodass im Ernstfall nicht auf amerikanischem Boden gekämpft werden müsste. Diesen Vorteil würde Trump aufgeben, wenn er die Nato infrage stellt.
Trumps Zorn entzündet sich ja vor alHerr lem daran, dass Nato-Mitglieder wie Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel verfehlen. Hat er recht?
Naumann: Der Beschluss lautet ja, dass die Bündnispartner sich verpflichten, sich bis 2024 in Richtung des Zwei-Prozent-Ziels zu bewegen, also nicht, dass bis 2024 und schon gar nicht bis 2019 zwei Prozent erreicht werden müssen. Sollte Trump verlangen, dass die zwei Prozent morgen, also 2019, gezahlt werden müssen, dann würde ich für Deutschland sagen: Selbst wenn die Bundesregierung dies wollte, könnte sie dieses Geld nicht sinnvoll verwenden. Denn die Produkte für die Verteidigung sind gar nicht verfügbar und die Menschen sowieso nicht. Das geht nicht von heute auf morgen, die Planung von Streitkräften ist immer ein jahrelanger Prozess.
Gibt Deutschland bereits genug Geld für die Verteidigung aus?
Naumann: Ich denke, die Bundesregierung ist auf einem vernünftigen Weg, was den Haushalt 2019 angeht. Ich bin noch skeptisch, was die mittelfristige Finanzplanung betrifft, die vom Kabinett beschlossen wurde. Sie sieht ja wieder ein Absinken der Verteidigungsausgaben vor und damit wird es unglaublich schwer, langfristige Rüstungsprojekte voranzutreiben. Da entstehen zu viele Fragezeichen und das verhindert dann vieles, was nötig wäre.
Wo müsste Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nachbessern? Naumann: Ich würde mir wünschen, dass noch stärker ein Akzent gesetzt würde auf Zukunftstechnologien, ich nenne nur das gefährliche Feld der Cyberangriffe. Da hat man erste, zaghafte Schritte getan. Aber es kommen ja noch mehr Herausforderungen auf uns zu, künstliche Intelligenz, Nanotechnologie oder die Grenzbereiche biologischer Technologien. Da muss sicher noch mehr investiert werden, um dieser rasanten Entwicklung, die ja zur Bedrohung werden kann, Rechnung zu tragen. Wie schätzen Sie die weltweite Sicherheitslage ein?
Naumann: Wir sind heute in einer Situation, die labiler und riskanter ist, als es in der Zeit des Kalten Krieges jemals der Fall war. Sicherheit nach Osten lässt sich wohl durchaus mit der Kombination von Abschreckung und dem Angebot des Dialogs mit Russland erreichen. Es wird aber weit schwieriger, wenn ich hinter die Nato-Südostflanke blicke und damit auf den extrem gefährlichen Raum des Nahen und Mittleren Ostens. Und wir müssen ebenso nach Süden blicken, wo aus der Tiefe Afrikas durch gewaltige Migrationsbewegungen auch völlig neue sicherheitspolitische Herausforderungen entstehen. Da geht es zwar zunächst um entwicklungspolitische Ansätze, aber die bedürfen ja in vielen Fällen auch des militärischen Schutzes. Wir müssen uns zudem überlegen, welchen Beitrag wir leisten können, um Konfrontationen in Asien, die sich durchaus abzeichnen, zu entschärfen. Welche Rolle spielt Peking in dieser Situation?
Naumann: China bemüht sich, die Weltmacht Nummer eins oder Nummer zwei zu sein, je nachdem, wie man das sehen will. Die Chinesen haben weit mehr strategische Geduld als ihr amerikanischer Gegenspieler und mit der neuen Seidenstraße ein Konzept hingelegt, das man auch in Europa aufmerksam verfolgen sollte. Ich glaube allerdings nicht, dass China gegenüber Europa eine konfrontative Politik verfolgen wird. Peking wird eher versuchen, uns durch Kooperation einzulullen oder sogar zu unterwandern. Denken wir nur an den Kauf deutscher Firmen aus der Hochtechnologie durch China. Stichwort Kuka aus Augsburg – leider verkauft worden. China ist einer der beiden großen Spieler des 21. Jahrhunderts – der andere sind und bleiben die USA.
Und wo sehen Sie da Russland? Naumann: Russland spielt nicht mehr in dieser Liga. Dazu hat das Land zu viele Probleme, die Bevölkerung schrumpft, gut ausgebildete Menschen wandern ab. Zu exportieren hat Russland nur Rohstoffe und Waffen. Die Europäische Union könnte dagegen ein globaler Akteur sein, sie ist aber leider in einem entscheidenden Feld der internationalen Politik, nämlich im militärischen, ein ziemlich impotenter Zwerg.
Was müsste dieser Zwerg Europa tun, um größer und potenter zu werden? Naumann: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat ja an die Spitze seiner viel beachteten Rede an der Sorbonne gestellt, dass er ein Europa der Sicherheit gestalten will. Wir dürfen nicht vergessen, dass es die vornehmste und wichtigste Aufgabe jedes Staates ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. In diesem Sinne müsste Europa mit Deutschland und Frankreich an der Spitze seine Kapazität der Selbstverteidigung weiter ausbauen.
Welchen Rat haben Sie in dieser Hinsicht für die Bundesregierung? Naumann: Deutschland muss in erster Linie erkennen, dass das Sichdarauf-Verlassen, dass es andere schon richten werden, wenn es irgendwo brennt, nicht das Rezept der Zukunft ist. Wir müssen uns der Verantwortung stellen und mitwirken in einem hoffentlich doch noch zusammenwachsenden Europa – und es uns in keinem Fall erlauben, irgendwo Trittbrettfahrer zu sein. Dazu ist Deutschland zu groß.
Interview: Bernhard Junginger Klaus Naumann, gebo ren 1939 in München, ist General a.D. des Hee res der Bundeswehr. Von 1991 bis 1996 war er Generalinspekteur der Bundeswehr. Von 1996 bis 1999 war er Vorsitzender des Nato Mili tärausschusses, oberste militärische Instanz des Bündnisses.