Ballermann am Berg
Heute geht es wieder auf die legendäre Etappe nach L’ Alpe d’Huez. 21 Kehren, 1100 Höhenmeter, 13,8 Kilometer. Schon gestern war dort oben der Teufel los
Le Bourg d’Oisans Ein makellos blauer Himmel spannt sich über die schroffen Bergketten und schneebedeckten Gipfel links und rechts des kleinen Alpenstädtchens Le Bourg d’Oisans. Auf der Terrasse des Hotels Oberland ist aber schon um acht Uhr früh Betrieb. Männer in bunten Radtrikots tunken Croissants in ihren Milchkaffee. Die Tour de France ist noch ein gutes Stück nordöstlich unterwegs. Aber hier, am Einstieg zu den weltberühmten 21 Kehren hinauf in die Skistation Alpe d’Huez, geben sich schon Tage vor dem Rennen tausende Hobbyradler die Kette. Und wie.
Das Oberland ist zu Tourzeiten ein Radlerhotel, an den Balkongittern hängen Trikots, es riecht streng nach Massageöl und ein bisschen nach Lampenfieber. Der Tag wird heiß, also geht es früh los. Noch liegen die ersten, steilen Kilometer im Schatten, aber nicht mehr lange. Durch die Hauptstraße rollen jetzt schon Kolonnen im Sattel zum Ortsausgang. „Ich will spüren, was die Profis im Rennen so erleben“, sagt Thomas aus der Nähe von Düsseldorf. Nachnamen gibt es in der Szene nicht. Ob ihm das gelingt – nun ja. Am heutigen Donnerstag werden Froome und Co. in einem Belastungsbereich treten, vom dem auch ein gut trainierter Hobbyfahrer wie der 38-jährige Zahnarzt nur träumen kann. Die Karawane rollt weiter über das Flüsschen La Romanche aus dem Ort hinaus. Im Kreisverkehr die Zweite raus auf die D211, vorbei am Campingplatz, von dem sich auch schon ganze Pulks in die Straße schieben. Dann die berühmte Linkskurve. Es geht los. Abrupt – und steil. Da die Straße breit ist, merkt man es kaum. Aber nur kurz, dann krachen die Schaltungen. Erstes Gehuste und Geschnaube. Manche haben noch einen Scherz auf den Lippen, andere rasch beginnende Atemnot. Willkommen am ultimativen Radlerberg der Tour.
21 Kehren, 13,8 Kilometer und knapp 1100 Höhenmeter. Zum 30. Mal werden sich am Donnerstag die Tourprofis hinauf in die Skistation wuchten. 1952 gewann Fausto Coppi das Debüt, seither wurden die Rampen zu einem sagenumwobenen, mystischen Ort der Tour. Der bisherige Besucherrekord stammt aus dem Jahr 2004. Damals gab es hier das bisher einzige Bergzeitfahren. Rund eine Million Menschen säumten die Straße, Lance Armstrong gewann vor Jan Ullrich. Es war ein Rennen in der Hoch-EpoZeit, eine Art Mutantenstadel mit Zeiten unter 40 Minuten für die rund 14 Kilometer. Marco Pantani hastete 1997 sogar in 37:35 Minuten nach oben. Schneller war nie einer – und das dürfte auch 21 Jahre später so sein. Wenn nicht, wäre das ein böses Zeichen. Die Straße ist aber vor allem ein Zuschauermagnet. Unten ist es noch ruhig. Thomas hat sich mit einem Belgier zusammengespannt. Luc hat Erfahrung, rät zur Demut statt zum dicken Gang. Er sollte recht behalten, schon bald passieren die beiden wieder so manchen, der noch vor ein paar Minuten im großen Blatt vorbeigerast ist. Der Berg bricht Angeber gnadenlos. Nach sieben Kehren wird es kurz flacher, aber vor allem lauter. Die Kurve der Holländer. 200 Meter Wahnsinn in orange. Tanzende, grölende Menschen, kaum ein Durchkommen. So müssen sich die Profis fühlen. Es riecht nach Bier – schon am Morgen. Aus fetten Boxen wummern Bässe wie Vorschlaghämmer. Die Flachländer gehören zur Show, weil Holländer acht der insgesamt 29 Ankünfte gewonnen haben. Trotzdem schnell weg, aber die Straße klebt vom Bier und sie wird auch wieder steiler.
Treten, atmen, treten und dann staunen. Nach dem Ort Huez wird der Blick weit, die letzten Kehren schlängeln sich weißgerändert durch die Hochalm bis zur Skistation. Die weißen Tupfen am Straßenrand sind Wohnmobile. Hunderte, viele stehen schon seit Tagen hier. Die besten Plätze in Kehre 14 sind seit einer Woche belegt und jetzt bereits hinter Gittern, die den Zugang zur Strecke blockieren. Viele pinseln Namen auf den Asphalt. Die Straße atmet frische Farbe, der Geruch verbindet sich mit dem Dunst der vielen Grills vor den Wohnmobilen. Noch drei Kehren, dann kann Thomas wieder lächeln. Geschafft, nach gut anderthalb Stunden. „Wie ein Ritt durch die längste Fan-Zone der Welt“, sagt Thomas. Luc schnauft und sagt nichts. Jeder noch ein Bier für 5,50 Euro, dann zurück. Und zum Rennen am heutigen Donnerstag dann noch mal rauf. Soweit man sie lässt.
● Thomas erobert Gelb Geraint Thomas hat nach einer famosen Vorstellung seines Teams Sky das Gelbe Trikot erobert. Der Waliser sicherte sich auf der 11. Etappe den Tagessieg und führt das Klassement nun vor seinem Teamkollegen Chris Froome an. Im Gesamtklassement führt Thomas als neuer Leader.
Der deutsche Radprofi Marcel Kittel muss die Tour dagegen verlassen. Der Thüringer verpasste am Mittwoch bei der Bergankunft in La Rosière als einer von mehreren abgehängten Fahrern das Zeitlimit um mehr als zehn Minuten und scheidet daher aus. Neben Kittel erwischte es auch den ehemaligen Seriensieger Mark Cavendish aus Großbritannien.