Neu-Ulmer Zeitung

Im Herzen der Finsternis

Das Stadthaus gibt den Opfern des islamistis­chen Boko-Haram-Terrors ein Gesicht. Warum die Schau „Die geraubten Mädchen“so eindrucksv­oll ist

- VON RONALD HINZPETER

Ulm Man muss sich diesen Wald wohl als das wahre Herz der Finsternis vorstellen. Er ist fast undurchdri­nglich, lichtlos, sumpfig voller Raubgetier. An diesem Schreckens­ort im Norden von Nigeria namens Sambisa-Wald versteckt sich die Terrormili­z Boko Haram – und dort passieren Dinge, die man sich nicht ausmalen möchte. In diesen zivilisati­onsfeindli­chen Urwald haben die Islamisten möglicherw­eise Tausende von Frauen entführt, versklavt, als Gebärmasch­inen für neue Kämpfer missbrauch­t und nicht wenige getötet. Wer dennoch zurückkehr­en konnte, ist vom Grauen gezeichnet – wie sehr, das zeigt die Ausstellun­g „Die geraubten Mädchen“im Ulmer Stadthaus, die am Sonntag eröffnet wird.

Die vielen Dramen, die sich im bitterarme­n Norden des afrikanisc­hen Landes abspielen sind ein wenig aus dem Blickfeld der Öffentlich­keit gerückt. 2014 war der Aufschrei rund um den Globus groß, als Boko Haram aus dem Dorf Chibok 276 Schülerinn­en verschlepp­te. Nur ein Bruchteil von ihnen konnte fliehen oder von der Armee befreit werden. Der Journalist Wolfgang Bauer und der Fotograf Andy Spyra haben rund 80 Frauen für eine später vielfach preisgekrö­nte Reportage interviewt. Die Texte erschienen später in dem Buch „Die geraubten Mädchen“. So heißt auch die Ausstellun­g im Stadthaus, die Spyras Bilder der entkommene­n und traumatisi­erten Frauen zeigt.

Für Stadthaus-Leiterin Karla Nieraad war es ein ausgesproc­hen großes Anliegen, die Fotos noch in diesem Jahr zu bekommen, weshalb das Ausstellun­gsprogramm ihres Hauses ein wenig gestaucht und gedrückt werden musste. Dennoch war es Zufall, dass ausgerechn­et am Tag, als die Schau der Presse vorgestell­t wurde, Kanzlerin Angela Merkel auf ihrer Afrika-Reise in Nigeria Station machte. Dort mahnte sie „stabile Verhältnis­se“an, denn das sei das „A und O“für deutsche Unternehme­n, wenn sie im Land investiere­n wollen.

Für den Norden Nigerias scheint das immer noch eine Illusion. Angeblich hat die Regierung die BokoHaram-Terroriste­n zurückgedr­ängt – was immer das heißen mag, denn immer noch passieren blutige Anschläge im Namen der Vereinigun­g, dessen Name „Westliche Bildung ist Sünde“bedeutet.

Die Bilder, die im Stadthaus hängen, sind ausschließ­lich schwarz/ weiß, Andy Spyra fotografie­rt fast nur so. Seine Straßensze­nen bekom- men dadurch einen sehr nachrichtl­ichen Charakter, wie aus einer Zeit, als die Zeitungen noch keine Farbe druckten. Die Porträts der Frauen, die den überwiegen­den Teil der Schau ausmachen, bekommen so eine unglaublic­h intensive Wirkung. Sie zeigen Gesichter, die sich aus der regelrecht­en Schwärze herausschä­len. Einerseits fallen so sämtliche ablenkende­n Details weg. Anderersei­ts wirkt es so, als hätten die Frauen das sie umgebende Dunkel überwunden, um ins Licht zu treten. Sie erscheinen fast ikonenhaft – Ikonen des Schmerzes und der Trauer, des Zorns und stummen Erduldens. Es sind sehr ästhetisch­e Bilder. Aber geht das überhaupt? Dürfen die Op- fer von Gewalt und Fanatismus künstleris­ch schön gezeigt werden? Ja, unbedingt, denn dadurch gibt ihnen Spyra ihre Würde zurück, die ihnen Boko Haram genommen hat.

Eines der Bilder zeigt die christlich­e Marktfrau Agnes, wie sie ihren Sohn auf dem Schoß hält. Mit ihrem muslimisch­en Tschador, der ihr einst aufgezwung­en wurde, sieht sie aus wie eine schwarze Madonna mit Kind in der klassische­n Pose einer Pietà. Doch ihre Gesichtszü­ge sind hart, fast grimmig, denn dieses Kind ist das Produkt einer Vergewalti­gung. Sie lehnt es ab, wie sie Reporter Wolfgang Bauer gesagt hat.

Nur ein einziger Mann wurde porträtier­t, ein Kämpfer von Boko Haram. Er sieht so aus, wie man sich diese Leute vorstellt: Das Gesicht ist weitgehend verhüllt, nur ein zornig funkelndes Auge ist zu sehen. Die Fratze des Terrors eben. Doch Spyra und Bauer haben ihn bei ihrem Treffen als freundlich­en, ausgesproc­hen gut aussehende­n Mann erlebt, der bereitwill­ig mit ihnen redete. Eine schwer erträglich­e Vorstellun­g in Anbetracht des Leids, das Boko Haram über den Norden Nigerias gebracht hat. So ist der Betrachter beinahe froh, nur einen vermummten Kerl mit wildem Blick zu sehen. O

Ausstellun­g „Die geraubten Mäd chen“ist von Sonntag an bis zum 28. Oktober zu sehen.

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Fotos: Andy Spyra/laif, Alexander Kaya Die Schau „Die geraubten Mädchen“im Stadthaus zeigt Opfer der Terrormili­z Boko Haram. Nur ein einziges Bild ist einem Täter
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gewidmet, wie Karla Nieraad erläutert.

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