Vogels letzter großer Kampf
Porträt Der Sozialdemokrat hat sich zeit seines Lebens für eine gerechtere Welt eingesetzt. Die Wohnungsnot aber konnte der ehemalige Münchner Oberbürgermeister nicht eindämmen. Jetzt startet er einen neuen Versuch, die Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt zu stoppen
München Hans-Jochen Vogel hat etwas verpasst. Zeit seines Lebens hat der Sozialdemokrat für eine humane, demokratische, vor allem aber gerechtere Welt gekämpft – unermüdlich, streng mit sich selbst und anderen, wortgewaltig, aber immer fair. Jetzt ist er 93 Jahre alt. Er ist an den Rollstuhl gefesselt. Er leidet – unter anderem – an einer beginnenden Parkinson-Erkrankung.
Selber helfen kann er sich kaum noch. Aber das muss ja nicht heißen, dass man anderen nicht mehr helfen kann, oder? Und außerdem ist da ja noch diese eine Sache, die unerledigt geblieben ist: Die Sache mit der Wohnungsnot, mit den rasant steigenden Wohnungsmieten und den Baulandpreisen, die für die Grundstückseigentümer „leistungslosen Bodengewinn“abwerfen, während die Kosten der Allgemeinheit aufgebürdet werden.
Die Anweisungen an die freundliche junge Frau, die den ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten durch das Foyer der Münchner Seniorenresidenz Augustinum schiebt, sind kurz und knapp. Rechts rum, dann nach links in den kleinen Besprechungsraum und hinten ans Fenster. Draußen scheint die Sonne. Es gibt Mineralwasser. Auf dem Tisch liegt „das Konvolut“. Doch dazu später.
Vogel will erst einmal was wissen. Wie geht es Augsburg? Wie geht es der Augsburger Allgemeinen? Wie hieß noch mal der Oberbürgermeister von der SPD? Nein, nicht Wengert. Nein, auch nicht der Breuer Hans. Der vorher. Schritt für Schritt erreicht das Gespräch jene Zeit, in der alles begann. Es ist die Zeit, in der Wolfgang Pepper – 1964 bis 1972 – in Augsburg Oberbürgermeister war und Hans-Jochen Vogel – 1960 bis 1972 – Oberbürgermeister in München.
Schon damals stöhnten Wohnungssuchende und Mieter über stetig steigende Mieten. Und schon damals kam Vogel auf die Idee, dass man das Problem an der Wurzel packen sollte: an den Preisen für Bauland. Auf seinen Vorschlag hin setz- der Münchner Stadtrat im November 1970 eine Kommission ein mit dem Auftrag, eine Initiative der Stadt für eine Reform des Bodenrechts vorzubereiten. Das hört sich nach Sozialismus und Enteignung an. Doch dieser Vorwurf war damals schon falsch. Der Jesuit, Nationalökonom und Sozialphilosoph Oswald von Nell-Breuning, der als „Nestor der katholischen Soziallehre“gilt, hatte den Vorschlägen der Kommission seinen Segen gegeben.
Der Münchner Stadtrat machte sich die Empfehlungen zu eigen und forderte vom Bundesgesetzgeber eine Neuordnung des Bodenrechts. Durch die Ausweitung des gemeindlichen Vorkaufsrechts, die Einführung eines Baugebots, die Abschöpfung der Planungsgewinne und die Einführung einer Bodengewinnsteuer sollte Bauland erschwinglich gehalten, dem Gemeinwohl nutzbar gemacht und die Spekulation eingedämmt werden.
Vogel hängte sich mächtig rein. Er trieb das Thema weiter voran, zunächst als Mitglied einer Kommission der SPD, dann ab Dezember 1972 als Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Und er hatte zunächst auch Erfolg. Im April 1973 stellte sich der SPD-Bundesparteitag hinter die Empfehlungen der Kommission. Ein halbes Jahr später fasste auch ein CSU-Parteitag ähnliche Beschlüsse. CDU und FDP zeigten sich reservierter, waren aber zunächst bereit, in erstaunlich vielen Punkten mitzugehen.
Wenige Jahre danach aber scheiterte die ganz große Reform. Insbesondere ans Steuerrecht wollten der Koalitionspartner FDP und auch die unionsregierten Länder im Bundesrat nicht ran. Und auch die Planungsgewinnabgabe blieb auf der Strecke. Danach hätten Grundstückseigentümer einen Teil der Wertsteigerung ihres Grundstücks, die auf Planung und Erschließung durch Kommunen beruhen, abge- ben müssen. Es blieb somit bei nur wenigen und wenig wirkungsvollen Änderungen im Bundesbaugesetz.
All das steht – selbstverständlich präziser und ausführlicher – in dem „Konvolut“, das vor Vogel auf dem Tisch liegt. Es ist eine umfangreiche Textsammlung, die er jedem Journalisten schicken lässt, der ihn besuchen und über seinen vielleicht letzten großen Kampf schreiben will. Die Post kommt aus Bonn. Vogel hat in der ehemaligen Bundeshauptstadt noch eine Mitarbeiterin, die derlei Dinge für ihn erledigt. Er selbst kommuniziert mit der Außenwelt per Post, per Fax und per Telefon. Wer ihn sprechen will, muss ihm ein Fax schicken, dann ruft er zurück. Wer Glück hat, wird von ihm empfangen.
Vogels Argumentation ist messerscharf – auch mehr als 40 Jahre nach seinem gescheiterten ersten Anlauf für eine Reform des Bodenrechts. Er zitiert ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1967: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgete
Geboren 3. Februar 1926 in Göttingen, Jura-Studium in München und Marburg, 1950 Promotion.
Politische Stationen 1960 bis 1972 Oberbürgermeister von München, von 1972 bis 1974 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, 1972 bis 1977 Vorsitzender der bayerischen SPD, 1974 bis 1981 Bundesjustizminister, 23. Januar bis 11. Juni 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin, 1983 SPDKanzlerkandidat bei der Bundestagswahl, 1983 bis 1991 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, 1987 bis 1991 Vorsitzender der SPD.
Privat Seit 1972 in zweiter Ehe verheiratet mit Liselotte, die beiden le- meinheit in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern.“Daraus ergibt sich laut Verfassungsgericht eine Aufgabe für den Staat: „Das Gebot sozial gerechter Nutzung ist aber nicht nur eine Anweisung für das konkrete Verhalten des Eigentümers, sondern in erster Linie eine Richtschnur für den Gesetzgeber, bei der Regelung des Eigentumsinhalts das Wohl der Allgemeinheit zu beachten. Es liegt hierin die Absage an eine Eigentumsordnung, in der das Individualinteresse den unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft hat.“
Die schönen Grundsätze des höchsten deutschen Gerichts sind Theorie geblieben. Der Gesetzgeber hat sich nicht gekümmert. Die Realität dokumentiert Vogel anhand weniger konkreter Zahlen: Von 1962 bis 2015 stieg der allgemeine Preisindex im Bund um 302 Prozent, die Mieten um 495 Prozent, die Baulandpreise aber um 1800 Prozent. Und dann nennt er gleich noch eine weitaus dramatischere Zahl: Die Steigerung der Baulandpreise in München liegt zwischen 1950 und 2015 bei „sage und schreibe 34 283 Prozent.“
In einem seiner Papiere aus dem „Konvolut“kommentiert er diese Zahlen mit beißendem Humor: ben seit 2006 in einem Münchner Wohnstift; Bruder Bernhard, 86, war unter anderem Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und Thüringen. „Die Frage, welche Gesamtsumme die leistungslosen Bodengewinne inzwischen erreicht haben und wem sie vor allem zugeflossen sind, wäre eine eigene Untersuchung wert. Meine Vermutung, dass sie sich auf mehrere Billionen beläuft und nicht bei Vermögenslosen, sondern zu einem wesentlichen Teil bei schon Vermögenden angekommen ist, erscheint immerhin nicht abwegig.“
Aber warum wird er jetzt wieder aktiv? Nach so langer Zeit? Mit 93? Aus dem Rollstuhl heraus? Vogel sagt: „Seit den Jahren 2016/2017 wird in Politik und Medien wieder verstärkt über Maßnahmen diskutiert, den Anstieg der Mietpreise zu bremsen. Mich hat daran gestört, dass niemand den eigentlichen Grund zur Debatte gestellt hat – und das sind die steigenden Baulandpreise.“Er wiederholt die Zahlen, haut auf den Tisch und sagt: „Ich verstehe das nicht. Sonst stürzen sich doch die Medien und der politische Bereich auf solche Zahlen. Mich wundert wirklich, dass das noch keinen Alarm ausgelöst hat.“Deshalb löste er jetzt selber Alarm aus – per Brief, per Fax, per Telefon, aus der Seniorenresidenz heraus.
Vogel geht mit Beharrlichkeit und der Hoffnung auf die Macht des besseren Arguments zu Werke, nicht radikal und klassenkämpferisch. Von dem geplanten Volksbegehren in Berlin distanziert er sich. Er sagt: „Das Volksbegehren in Berlin stützt sich auf Artikel 15 des Grundgesetzes. Das ist nicht mein Terrain.“
In Artikel 15 heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Vogel will keine Vergesellschaftung. Er stützt sich auf Artikel 14 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“
Und Vogel stellt auch gleich noch klar, dass vor einer Enteignung, die laut Grundgesetz selbstverständlich entschädigungspflichtig sei, alle anderen Mittel ausgeschöpft werden müssten: „Enteignung ist für mich immer nur die Ultima Ratio in Einzelfällen, also dann, wenn Verhandlungen mit Grundstückseigentümern auf anderem Weg nicht zu einem vernünftigen Ergebnis führen.“
Seine Vorschläge füllen mehrere Seiten. Sie orientieren sich an den Ideen aus den 70er Jahren und am Beispiel der Stadt Wien, wo eine Bodenpolitik, wie er sie will, zu stabilen Mieten und einer ausreichenden Versorgung mit Wohnraum geführt hat. Seine Erfolgsaussichten sieht der 93-Jährige gar nicht so schlecht: „Ich bin doch einigermaßen zuversichtlich. Das öffentliche Interesse hat deutlich zugenommen. Es gibt wieder ein Grundbewusstsein dafür, dass der Grund und Boden unentbehrlich und nicht vermehrbar ist. Er ist eben nicht vergleichbar mit einem Auto und einer Schachtel Pralinen. Darauf kann man zur Not verzichten.“
Vogels Forderung, das Thema Bodenrecht wieder auf die Tagesordnung zu setzen, wird begleitet von Selbstkritik. In einem seiner Grundsatzpapiere schreibt er: „Ich tue das nicht im Ton des Vorwurfs, den ich jedenfalls für die Zeit von 1976 bis 1994 ja wohl auch an mich selbst zu richten hätte.“Das ist es, was er verpasst hat: Er hat in seiner aktiven Zeit als Politiker das Thema nicht mehr aufgegriffen. „Kein Mensch ist fehlerfrei“, sagt er dazu.
Jetzt holt er es nach. Für den heutigen Montag haben sich Vertreter der Bauland-Kommission der Bundesregierung bei Hans-Jochen Vogel angekündigt. Die Kommission geht auf seine Forderungen zurück. Er wird die Damen und Herren empfangen – im Besprechungsraum der Seniorenresidenz.
Das Problem liegt in den Baulandpreisen Hans-Jochen Vogel in aller Kürze Er kommuniziert per Post, per Fax und per Telefon