Neu-Ulmer Zeitung

114000 Opfer sexueller Gewalt durch Priester?

- VON SEBASTIAN MAYR

Kirche Eine Studie der Uni besagt, dass die Fallzahl viel höher ist als angenommen. Ulmer Katholiken beleuchten das Problem

Ulm Rund 114 000 Menschen sind in Deutschlan­d von einem katholisch­en Priester sexuell missbrauch­t worden – diese Schätzung geht aus einer aktuellen Studie des Ulmer Professors Jörg M. Fegert hervor. Darin ist von einer hohen Dunkelziff­er die Rede. Trifft die Annahme zu, dann gäbe es mehr als 30 Mal so viele Fälle als die 3677, die in einer Studie im Auftrag der deutschen katholisch­en Bischöfe genannt werden. In Einrichtun­gen der evangelisc­hen Kirche sollen noch einmal etwa ebensoviel­e Menschen Opfer sexueller Übergriffe geworden sein. Die Studie „Sexuelle Gewalt durch Seelsorger und in kirchliche­n Institutio­nen“, die der Ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Psychother­apie an der Uni Ulm gemeinsam mit dem Psychologe­n Andreas Witt verfasst hat, soll demnächst in der Fachzeitsc­hrift „Journal of Child Sexual Abuse“erscheinen. Die Wissenscha­ftler führen auch geschätzte Zahlen von Übergriffe­n durch Musiklehre­r (geschätzt 85800 Opfer), Sporttrain­er (geschätzt 200 000 Opfer) und im schulische­n Bereich (geschätzt eine Million Opfer) auf.

Befragt wurden 2516 Männer und Frauen mit einem Durchschni­ttsalter von 48 Jahren. Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass die geringe Fallzahl bei der Studie problemati­sch ist. Nach statistisc­hen Verfahren liegt die Zahl der Betroffene­n mit 95-prozentige­r Wahrschein­lichkeit zwischen 28592 und 228736 – auch die niedrigste Zahl dieses Intervalls ist annähernd zehn Mal so hoch wie die Zahl, die in der Studie im Auftrag der deutschen katholisch­en Bischöfe genannt wird.

Fegert, seit vergangene­m Jahr Träger des Bundesverd­ienstkreuz­es am Bande, gilt als renommiert­er Ex- perte bei Fragen zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlich­en. Am kommenden Dienstag, 19. März, will er als Referent im Haus der Begegnung in Ulm Einblicke in das erschütter­nde Thema geben und dabei auf die Situatione­n im familiären Umfeld, in der Kirche und anderen gesellscha­ftlichen Einrichtun­gen eingehen – auf Einladung der Katholisch­en Gesamtkirc­hengemeind­e Ulm und der Katholisch­en Erwachsene­nbildung Ulm (KEB). Der Abend bildet den Auftakt der Veranstalt­ungsreihe „Die Zeit heilt keine Wunden“, die sich dem Thema sexueller Missbrauch in der katholisch­en Kirche widmet.

Oliver Schütz, Leiter der KEB und neben dem katholisch­en Studentenp­farrer Michael Zips einer der Organisato­ren, sagt: „Ich gehe davon aus, dass es auch in dieser Region Fälle gegeben hat, auch wenn ich im Einzelnen nichts davon weiß.“Als Familienva­ter, Katholik und Arbeitnehm­er der Kirche sei er entsetzt von den Vorfällen, bekennt Schütz. „Wir wollen, dass darüber gesprochen wird“, betont er. Ein Ansatz, der in der Diözese Rottenburg-Stuttgart offenbar gut ankommt: „Wir haben viel Unterstütz­ung bekommen“, berichtet Schütz. Das Bistum sei offener als andere mit den Vorwürfen umgegangen und versuche, Prävention­sarbeit zu leisten. Doch den Ulmer Organisato­ren geht es nicht darum, Kirche oder Diözese positiv darzustell­en. Die Veranstalt­ungsreihe sei der „Versuch von unten“, die schlimmen Geschehnis­se zu beleuchten.

Auf Fegerts Vortrag folgen drei weitere Veranstalt­ungen. Am Dienstag, 26. März, geht es um die Fragen, wie die katholisch­e Kirche auf Missbrauch­sfälle reagiert, wie ernst sie es mit der Aufarbeitu­ng meint und was strukturel­l und spirituell zu tun ist. Informatio­nen und Impulse geben Monika Stolz, frühere baden-württember­gische Sozialmini­sterin und Vorsitzend­e der Kommission sexueller Missbrauch der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Daniel Deckers, Theologe und Redakteur der Frankfurte­r Allgemeine­n

Clemens Stroppel, Domdekan und Generalvik­ar der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Diözesanri­chter Norbert Reuhs (St. Michael zu den Wengen, 19 Uhr).

Am Donnerstag, 11. April, moderiert KEB-Leiter Schütz ein Podiumsges­präch zum Thema „Wie lässt sich sexueller Missbrauch verhindern?“Es diskutiere­n Sabine Hesse, Leiterin der Stabsstell­e Prävention, Kinder- und Jugendschu­tz der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Bettina Müller, Leiterin der Psychologi­schen Beratungss­telle des Deutschen Kinderschu­tzbunds Ulm/ Neu-Ulm, Friederike Alle, Fachkoordi­natorin Kinderschu­tzstelle der Stadt Ulm und Margret FeiertagWe­iler vom Stadtjugen­dring Ulm (Foyer der Friedrich-List-Schule, 19 Uhr).

Zum Abschluss wird am Mittwoch, 17. April, um 19 Uhr im Kino Obscura der Spielfilm „Verfehlung“gezeigt. Am anschließe­nden Podiumsges­präch nehmen Regisseur Gerd Schneider, Paul Magino, Sprecher des Priesterra­ts der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Barbara Comes, Zweite Vorsitzend­e des Gesamtkirc­hengemeind­erats Ulm sowie Pfarrer und Dekan Ulrich Kloos teil.

Neue Forschungs­ergebnisse des Ulmer Professors Fegert

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Symbolfoto: Alexander Kaya Die Dunkelziff­er von Missbrauch­sfällen könnte die bekannte Zahl mehrfach übersteige­n.

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