Neu-Ulmer Zeitung

Der Anfasser

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Porträt Joe Biden, einst Obamas Vizepräsid­ent, rechnet sich als Kandidat gegen Donald Trump Chancen aus. Wäre da nicht seine Neigung zu Nähe, auch bei Frauen

Es ist gar nicht so leicht, einer Umarmung von Joe Biden zu entgehen. Auch der Autor dieser Zeilen hat diese Erfahrung schon gemacht, während seiner Jahre als USA-Korrespond­ent. Da stand man als Berichters­tatter bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng des Teams „Obama/Biden“nichts ahnend mit Block und Stift nah an der Bühne, von der aus sich Biden ins Volk warf – und flugs hatte dieser einen auch erwischt, mit einem seiner legendären „bear hugs“, wie es die Amerikaner nennen: einer wahrlich allumfasse­nden Umarmung. Diese Neigung zum Körperkont­akt droht Biden nun gefährlich zu werden. Der Ex-Vizepräsid­ent, obwohl bereits stolze 76 Jahre alt, läuft sich nämlich warm für eine Präsidents­chaftskand­idatur im Jahr 2020. Und in Umfragen liegt Biden gar nicht schlecht gegen Donald Trump, schon wegen

seiner Hemdsärmel­igkeit, die ihn auch in struktursc­hwachen Gebieten anders punkten lassen könnte als etwa Vor-Bewerberin Hillary Clinton. Wenn da nicht besagte Neigung zur Nähe wäre: Gleich mehrere Frauen sind gerade an die Öffentlich­keit gegangen, und berichten, wie nahe ihnen Biden über die Jahre gekommen sei. Eine schrieb, Biden habe ihre Schultern von hinten berührt und ihren Hinterkopf geküsst. Eine andere erinnerte sich, Biden habe seine Nase an ihrer gerieben. Wieder eine andere gab zu Protokoll, der mächtige Politiker habe sie während ihrer Zeit als Praktikant­in im Weißen Haus einfach so ein „hübsches Mädchen“genannt.

Konkrete Belästigun­gsvorwürfe erhebt bislang zwar niemand, doch spielt dies noch eine Rolle in den Zeiten von „MeToo“? Biden jedenfalls gibt sich demonstrat­iv zerknirsch­t und will körperlich­e Nähe künftig nur noch sehr begrenzt gewähren. „Die Grenzen beim Schutz der Intimsphär­e haben sich zurückvers­choben“, erklärte er, „ich verstehe das.“Er wolle künftig „viel mehr“darauf achten, die Intimsphär­e anderer Personen zu respektier­en, kündigte Biden an. Seine Träume von einer Kandidatur gegen Trump hat er aber noch nicht begraben. Das macht insofern Sinn, als dieser es ja trotz wesentlich schwerwieg­enderer Vorwürfe bis ins Weiße Haus geschafft hat. Zudem kann Biden noch von der Sehnsucht vieler US-Demokraten nach den Obama-Jahren zehren. Zwar stand er dem strahlende­n jungen Hoffnungst­räger gar nicht so furchtbar nahe, wie die beiden es in ihrer „bromance“öffentlich zelebriert­en. Aber verglichen mit der jetzigen Situation kommt vielen Demokraten diese vergangene Zeit natürlich märchenhaf­t vor.

Die aktuelle Nähe-Debatte übertönt aber nur zwei viel nahe liegendere Fragen. Kann Biden in seinem Alter überzeugen­d für einen Neuanfang von Amerikas Demokraten stehen? Und: Warum sollte er TrumpWähle­r zurückgewi­nnen, die von Obama enttäuscht Trump wählten – wenn Biden doch eher wie ein (älterer) Aufguss jener Obama-Jahre wirkt? Gregor Peter Schmitz

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Foto: dpa

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