Gestatten: Die Leinthalers!
Gesellschaft Die Welt braucht keine Kinder, behauptet eine Regensburger Lehrerin und hat damit eine hitzige Debatte ausgelöst. Was aber, wenn man gleich zehn davon hat? Über den turbulenten Alltag einer Großfamilie aus Wertach, abschätzige Sprüche und das, was wirklich zählt
Wertach Die hölzerne Tür des Bauernhauses schwingt auf, der Trubel beginnt. In der Stube der Leinthalers im 1000 Meter hoch gelegenen Weiler Hinterreute (Oberallgäu) herrscht an diesem Nachmittag Hochbetrieb. Fridolin, 4, klettert auf den Tisch, Greta, 8, sucht Stifte für ihr Malbuch, Fritz, 10, bläst in seine Trompete, Thea und Paula, 15 und 16 Jahre alt, besprechen ihre Physik-Hausaufgaben. Im Ofen flackert das Feuer, ein Handy klingelt.
Es ist Leni, die sich verzweifelt aus dem benachbarten Jungholz meldet. Dort will die 18-Jährige einen Radanhänger abholen, den die Familie im Internet gekauft hat. Doch jetzt findet sie den Weg dorthin nicht. „Keine Panik. Haben wir gleich“, sagt Vater Hans-Peter. Der 51-Jährige kommt gerade von der Arbeit nach Hause und gibt ihr die Telefonnummer durch. Derweil empfiehlt seine Frau Andrea dem musikbegeisterten Fritz, doch eher in einem anderen Zimmer Trompete zu üben. Leiser wird’s nur für kurze Zeit. Denn jetzt weint plötzlich Fridolin …
Irgendwo dazwischen, an der Ecke des Küchentisches, sitzt der Besucher und denkt sich: Wie schafft man es nur – das Leben in einer Großfamilie? Die Leinthalers sind Experten auf diesem Gebiet. Das Ehepaar, beide diplomierte Agrar-Ingenieure, hat zehn Kinder im Alter zwischen vier und 24 Jahren. „Bei uns ist das ganze Jahr Vollgas“, sagt Andrea Leinthaler, 51. Anders kann es sich die gebürtige Kemptenerin nicht vorstellen. „Jedes Kind ist ein Wunschkind. Das ist unser Leben. Spannend, turbulent, begeisternd.“
So war es von Anfang an. Kennengelernt haben sich der Oberbayer und die Allgäuerin während des Studiums in Weihenstephan. Sie hatten beide den Traum von einer Großfamilie – und ließen ihn Wirklichkeit werden. Jakob, der Älteste, wurde noch während des Studiums geboren. Mit Therese war Andrea Leinthaler schwanger, als sie ihre Diplomarbeit schrieb. 1998 eröffnete sich dem Ehepaar eine einmalige Chance: Es kaufte unterhalb des Grünten bei Wertach einen alten, halb verfallenen Bauernhof. Mit viel Geschick bauten ihn die beiden aus und füllten ihn buchstäblich mit Leben.
Kochen, waschen, wickeln, spülen, einkaufen, trösten, helfen, fahren: Bei den Leinthalers geht es dermaßen rund, dass ein Außenstehender schnell den Überblick und die Nerven verlieren würde. Nicht so Andrea Leinthaler, die den Haushalt koordiniert: „Wenn einmal alle Kinder aus dem Haus sein sollten“, sagt sie mit einem Lachen, „kann ich mich als Logistikerin bei Dachser bewerben.“
Mit ihrem Kinderreichtum fällt die Allgäuer Familie aus der Reihe – erst recht, seit eine Regensburger Lehrerin Kinder als Klimasünde brandmarkte und eine hitzige Diskussion in Gang setzte. Statistisch gesehen bekommt eine Frau in Deutschland 1,57 Kinder. Nur ein Prozent aller Familien hierzulande hat fünf oder mehr Kinder. Nach Einschätzung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung könnte die gesellschaftliche „Stigmatisierung kinderreicher Familien“ein Grund für diese Zurückhaltung sein. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Bild von Großfamilien jedenfalls ramponiert. Wenn sie in den Medien auftauchen, geht es meist um kriminelle Clans oder prollige Sippschaften in DokuSoaps wie bei der RTL II-Sendung „Die Wollnys – eine schrecklich große Familie“.
Argwöhnische Blicke und abschätzige Bemerkungen erleben die Leinthalers oft, wenn sie ihr idyllisches Zuhause verlassen und mit Kinderschar in der Stadt unterwegs sind. „Wissen die nicht, dass es Verhütung gibt?“, tuscheln Passanten dann. Oder: „Haben die keine anderen Hobbys?“
Sprüche wie diese verletzen die Eltern. Sie verspotten, was ihnen unantastbar ist. Wäre Kinderliebe bei vielen Deutschen ein Mäuslein, nähme sie bei den Leinthalers die Größe eines Elefanten an. Genau wie in Italien übrigens, wo die Familie jeden Sommer mit allen Kindern Urlaub auf einem Selbstversorger-Hof macht. Mit dabei sind dann auch die drei ältesten Kinder Jakob, 24, Therese, 22, und Ida, 20, die mittlerweile allesamt in verschiedenen Städten studieren. „In Italien rasten die Leute aus vor Freude über unseren Kindersegen“, sagt Andrea Leinthaler. „Bei uns gibt es zwar auch positive Stimmen, aber die meisten schauen erst mal entsetzt.“
Befeuert wird die Skepsis aktuell durch Verena Brunschweiger – jene Autorin, die mit ihrem Buch „Kinderfrei statt kinderlos“ein Manifest gegen das Kinderkriegen geschrieben hat. Sie führt unter anderem ökologische Gründe ins Feld. Demnach könne man jährlich 58,6 Tonnen CO2 einsparen, „wenn wir nur ein Kind weniger in die Welt setzen“, wie sie in einem Interview erklärte.
Für die Leinthalers eine empörende Forderung. „Ich frage mich, ob eine Lehrerin, die Kinder nur als Klimakiller betrachtet, den richtigen Beruf ergriffen hat. Dieses Menschenbild halte ich für völlig daneben“, sagt Hans-Peter Leintha
Geburten Seit einigen Jahren kommen in Deutschland wieder mehr Kinder zur Welt. Am höchsten war der Wert im Jahr 2016, im Jahr darauf sank er wieder leicht. 2017 wurden in Deutschland etwa 784 884 Babys geboren.
Geburtenziffer Statistisch gesehen bringt eine Frau hierzulande 1,57 Kinder zur Welt. Am höchsten liegt der Wert in Thüringen mit 1,63, am ler, dem der Umweltschutz am Herzen liegt. Er fliegt nie, würde gerne Bus- und Bahnverkehr noch öfter nutzen, wenn „das Angebot besser wäre“, und gewinnt Strom und warmes Wasser dank Photovoltaik- und Solaranlage auf dem Dach.
Zudem hat er sich mit seiner Familie den Erhalt der Alpinen Steinschafe zur Aufgabe gemacht. Der Bestand der zotteligen Tiere wird im Alpenraum auf nur noch 800 Stück geschätzt. Auf dem Hof der Leinthalers tummeln sich 15 Muttertiere neben Hühnern, Gänsen und Ponys. „Das Thema Nachhaltigkeit beschäftigt uns besonders“, sagt Andrea Leinthaler. „Wer zehn Kinder hat, kann sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen und sagen: ,Nach mir die Sintflut.‘“Das fängt für sie im Kleinen an: Zum Wickeln hat Andrea Leinthaler konsequent Stoff- statt Wegwerfwindeln verwendet.
Doch die Familie stößt auch an ihre Grenzen. „Natürlich würden wir uns gerne öfter Bio-Produkte leisten, aber das ist finanziell einfach nicht drin.“Anders als oftmals unterstellt, reiche das Kindergeld (ab dem vierten Kind 250 Euro pro Kind im Monat) längst nicht aus. Da hilft es auch nicht, dass Sohn Emil, 13, einen reichen Patenonkel hat: den früheren Bundespräsidenten Horst Köhler.
Für das siebte Kind können Eltern in Deutschland die sogenannte Ehrenpatenschaft des Bundespräsidenten beantragen. Ein symbolischer Akt, aus dem sich keinerlei Ansprüche ableiten. „Schade eigroßer gentlich“, sagen die Leinthalers, die sich in vielen Punkten einschränken müssen. Sie gehen selten essen, Kaffeetrinken oder aus. Doch das nehmen sie mit Humor: „Wenn wir einen Kinoabend haben wollen, dann stelle ich einen Beamer in die Stube und lade alle Kinder ein“, sagt Hans-Peter Leinthaler.
Erfinderisch ist die Großfamilie auch in puncto Wiederverwertung. Das zeigt sich gerade jetzt, in den ersten warmen Tage des Jahres. Dann holen Leinthalers die „Sommerkisten“aus den Regalen. Sie sind gefüllt mit dutzendweise gebrauchter Sandalen, T-Shirts und kurzer Hosen in sämtlichen Größen. Die Kinder reichen sie – so gut es möglich ist – untereinander durch. Dann geht’s ab nach draußen. Auf dem knapp zehn Fußballfelder großen Grundstück gibt es viel zu tun – und zu erleben. „Uns ist es sehr wichtig, dass die Kinder mit und in der Natur aufwachsen und lernen, dass man behutsam damit umgeht“, sagt Hans-Peter Leinthaler. „U-Bahn-Fahren können sie später immer noch lernen.“
Für den Vater, der beim Integrationsfachdienst von Diakonie und katholischer Jugendfürsorge in Kempten arbeitet, haben die Stunden an der frischen Allgäuer Höhenluft große Bedeutung. Wenn ihm der familiäre Trubel zu bunt wird, erholt er sich bei Spaziergängen oder Arbeiten im Wald. Wenig später sitzt er wieder gut gelaunt und in sich ruhend in der Stube, die man als Kommandozentrale der Familie bezeichnen könnte, wenn es da nicht ein drittes Kind entscheiden, mit ihrem Leben zufriedener sind.
Großfamilie Unter eine „Mehrkindfamilie“fällt, wer drei oder mehr Kinder hat. Das trifft in Deutschland derzeit auf etwa 861 000 Familien zu – oder elf Prozent. Damit liegt Deutschland im europäischen Mittelfeld. Genauer gesagt: Acht Prozent aller deutschen Familien haben drei Kinder, zwei Prozent haben vier Kinder. Auf fünf Kinder einen entscheidenden Unterschied gäbe: Kommandos ertönen keine! Wenn man das Ehepaar Leinthaler nach seiner Erziehungsmethode fragt, fallen zwei Begriffe: „Liebe und Zuversicht“. Und nach einer kleinen Pause ein augenzwinkerndes: „Mut zur Lücke.“
Ein Team von Spiegel TV hat einmal eine Familie mit zwölf Kindern in den Urlaub begleitet und dabei erstaunliche Zahlen zutage gefördert: 170 T-Shirts, über ein Dutzend Zahnbürsten und etwa 25 Paar Schuhe gehörten zum 200 Kilo schweren Gepäck. Solche Statistiken führen die Leinthalers nicht. Sie sehen keinen Sinn darin. Ihr Leben ist viel mehr als Zahlen. Ganz oft ist es spontan und improvisiert. „Wir sind planlos“, gesteht das Ehepaar, „aber nie ziellos.“
Wichtig sind Hans-Peter Leinthaler „Leitplanken“, wie er es nennt, die er den Kindern mit auf den Weg gibt. Respekt zählt er dazu, Empathie, Offenheit und Neugierde auf Wissen. „Wir definieren unsere Kinder nicht nach erbrachter Leistung. Wir bauen sie auf und ermutigen sie, ihren eigenen Weg zu finden. Vieles kommt von selber.“So wie die Liebe zur Musik. Fast jedes Kind spielt ein Instrument: Klarinette, Flügelhorn, Gitarre, Akkordeon und – natürlich, wie Fritz – Trompete.
Oder der Sport. Ein Teil der älteren Geschwister ist als Kletter- und Skilehrer im Einsatz und Vorbild für die jüngeren. Therese, die Erziehungswissenschaften in Augsburg studiert und über den gemeinsamen
oder mehr kommt nur ein Prozent aller Familien hierzulande.
Auswirkungen auf Geburtenzahl Nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung erklärt der deutliche Rückgang der Großfamilien in den letzten Jahrzehnten rund 68 Prozent des Geburtenrückgangs in Deutschland. Lediglich 26 Prozent lassen sich auf die gestiegene Kinderlosigkeit zurückführen. (sok) Familienkanal auf WhatsApp ständig auf dem Laufenden ist, sagt: „Es gibt nichts Schöneres, als so viele Geschwister zu haben. Ich würde keinen Einzigen in unserer Familie missen wollen. Bei uns ist immer was los. Das schätzen auch unsere Freunde. Wir sind ein offenes Haus mit ganz viel Herzlichkeit.“Jedes der Kinder habe früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen – für sich, aber auch für die anderen. „Es funktioniert nur gemeinsam. Jeder hat seine Stärken, und die bringt er.“Der Hof der Eltern in Hinterreute ist für sie noch heute wie ein „sicherer
Die Mutter betont: Jedes Kind ist ein Wunschkind Wie viele Großfamilien es in Deutschland gibt und warum das dritte Kind Eltern glücklich macht „Haben die keine anderen Hobbys?“, lästern manche
Hafen“. Auch in schwierigen Zeiten halten dort alle zusammen.
Das haben die vergangenen Monate einmal mehr gezeigt. Die 15-jährige Thea wurde ungeplant schwanger. Die Realschülerin stand vor der Frage, ob sie das Kind abtreiben oder behalten soll. Sie entschied sich für das Baby. Jetzt ist der zehn Wochen alte Theo der Sonnenschein im Haus. „Wenn man sieht, wie herzlich er von jedem Einzelnen empfangen wurde, macht einen das einfach stolz und glücklich“, sagt Andrea Leinthaler. Für die 51-Jährige ist es bereits das zweite Enkelkind. Jakob, ihr ältester Sohn, hat vor vier Jahren Nachwuchs bekommen.
Andrea Leinthaler selbst war in all den Jahren in ihrer Großfamilie nur einmal schier am Verzweifeln. Nach einer Lungenentzündung verschrieb ihr der Arzt eine Kur auf Norderney. 900 Kilometer von zu Hause entfernt, fühlte sie sich auf der Nordseeinsel aber vom ersten Tag an nicht wohl. Nicht infolge der Krankheit. Sondern weil sie ihre Kinder vermisste. Zu späteren Kuren habe sie „zum Glück“einen Teil ihrer Schar mitnehmen können. Den Aufenthalt auf Norderney verbrachte sie jedoch ohne ihre große Familie. „Das“, sagt die zehnfache Mutter, „waren die bislang schlimmsten Wochen meines Lebens.“