Neu-Ulmer Zeitung

„Wenn jemand A sagt, verstehen wir B“

- VON ARIANE ATTRODT

Selbsthilf­e Yvonne und Sonja haben eine neue Borderline-Gruppe gegründet. Warum sie die Persönlich­keitsstöru­ng mit einer ewigen Prüfungssi­tuation vergleiche­n

Neu-Ulm Immer mehr E-Mails, Anrufe und SMS, neue Mitglieder bei den Treffen und großer Erfolg bei den Informatio­nsabenden: Bei der Borderline Selbsthilf­egruppe NeuUlm/Ulm gab es viel Arbeit – und genau das wurde irgendwann kritisch: „Für mich alleine ist das zu viel geworden“, sagt Yvonne, die die Gruppe lange Zeit leitete und ihren vollständi­gen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Das Problem: Die damalige zweite Gruppenlei­terin nahm sich bei der Arbeit zurück. „Also habe ich meine Fühler ausgestrec­kt, wer mir in der Gruppe stattdesse­n helfen könnte“, erzählt Yvonne. Sie stieß auf Sonja – doch die zweite Gruppenlei­terin wollte von ihrem Posten dennoch nicht abrücken. „Also haben wir im März beschlosse­n: Wir gründen eine neue Gruppe“, sagt Yvonne. Und das taten die beiden – und zwar innerhalb nur weniger Tage. „Das hat mir wirklich auf den Nägeln gebrannt – weil sich die Leute ja auch auf mich verlassen“, sagt Yvonne.

Die neuen Kontaktdat­en ihrer Gruppe „L(i)ebenswert“wollen die beiden so schnell wie möglich verbreiten: „Wir haben Angst, dass Menschen bei der alten Anlaufstel­le mehr oder weniger ins Leere laufen“, sagt Sonja. Denn Borderline­r

Der eine sucht Abstand, der andere klammert

täten sich mit Neuem schwer – und viele deshalb auch damit, eine bislang unbekannte Stelle anzurufen. „Wenn man das einmal getan hat, ist es wahrschein­lich, dass man dabei bleibt“, erklärt Sonja. Aber: „Wenn Sie zum Beispiel eine Mail schicken und keine Antwort bekommen, werden Sie nie wieder eine dorthin schicken.“Alles sei diskret, anonym und kostenlos“, betont sie.

Ein weiterer Vorteil, dass die beiden nun gemeinsam eine Gruppe leiten: Wer neu dazu kommt, kann sich den Ansprechpa­rtner aussuchen, mit dem er sich persönlich besser versteht. „Trotz der gleichen Krankheit sind wir bunt gemischt“, betont Sonja.

Während sie sich beispielsw­eise in Beziehunge­n öfter zurückzieh­e und Abstand suche, neigt Yvonne eher zum Klammern und Vereinnahm­en. „Es ist sehr wichtig, dass sich der Partner mit Borderline auskennt und weiß, dass es nicht bedeutet, dass man ihm nicht vertraut oder ihn nicht liebt.“In der Öffentlich­keit sei die Borderline-Persönlich­keitsstöru­ng immer noch ein Tabuthema. „Selbst Depression­en sind mehr in den Köpfen der Leute“, sagt Sonja. Und eine Depression sei eben nur eines der vielen Symptome von Borderline.

Gemein ist Borderline­rn eine Achterbahn der Gefühle. „Wir nehmen unsere Umwelt ganz anders war“, erklärt Sonja. Eine Situation auf der Arbeit, die für andere nach ein paar Minuten abgehakt wäre, nehme sie auch noch mit nach Hause. Yvonne ergänzt: „Wenn jemand A sagt, verstehen wir B. Wir zerlegen das alles in Einzelheit­en.“Eine eigentlich gut gemeinte Äußerung könnte dann am Ende negativ ausgelegt werden.

Sonja findet den Vergleich mit einer Prüfungssi­tuation ideal: Jeder könne sich den Druck in dieser Situation vorstellen, hat sie selbst schon mehrmals einmal erlebt. „Ich stehe jeden Tag auf und da ist immer so ein innerer Druck und eine Anspannung.“Demgegenüb­er steht die innere Leere. „Man fühlt vielleicht manchmal einfach gar nichts“, sagt Yvonne. Und das dürfe auf keinen Fall mit Langeweile gleich gesetzt werden. Zudem: „Viele Jüngere müssen erst lernen, dass dieses Gefühl wieder weggeht.“

Zweimal im Monat, am zweiten und vierten Mittwoch, trifft sich die Selbsthilf­egruppe im Gemeindeps­ychiatrisc­hen Zentrum (GPZ) in Ulm. Beim ersten Mal waren bereits

18 Leute da. „Mittlerwei­le haben wir auch einige Männer in der Gruppe“, erzählt Yvonne. Oft werde vergessen, dass auch diese an Borderline leiden, sie schätzt den Anteil relativ gleichwert­ig ein. Männer gingen aber nicht so oft zum Arzt, die Persönlich­keitsstöru­ng werde bei ihnen seltener erkannt. Das kann ohne Therapie schlimme Folgen haben: „Der typische Borderline­r landet irgendwann im Gefängnis, weil viel Aggression mit hineinspie­lt.“

 ?? Symbolfoto: Alexander Kaya ?? Das Gefühl der inneren Leere und Depression­en sind eines der Symptome einer Borderline-Persönlich­keitsstöru­ng. In Ulm gibt es eine neue Selbsthilf­egruppe für Betroffene und Angehörige.
Symbolfoto: Alexander Kaya Das Gefühl der inneren Leere und Depression­en sind eines der Symptome einer Borderline-Persönlich­keitsstöru­ng. In Ulm gibt es eine neue Selbsthilf­egruppe für Betroffene und Angehörige.

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