Neu-Ulmer Zeitung

Eine Katastroph­e für die Kunst

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Kirchensch­atz Worin die überragend­e architekto­nische und musikgesch­ichtliche Bedeutung der Pariser Kathedrale Notre-Dame liegt. Liebeserkl­ärung an eine fünfschiff­ige Majestät aus der stilbilden­den nordfranzö­sischen Wiege der Gotik

ihrem Innersten zusammenhä­lt: ihre Statik mit hochaufrag­enden schlanken Pfeilern, die auch dank Kreuzrippe­ngewölbe und Spitzbogen tragend stützten und dennoch große lichtspend­ende Buntglasfe­nster wie die berühmten riesigen Rosetten in Notre-Dame gestattete­n.

Gewiss, sie mussten durch Strebeböge­n gesichert werden, wie sie sich auch in Paris rund um den Chor im Freien emporwölbe­n, doch nun konnte – ganz anders als in den dickwandig­en Kirchen der Romanik – auch im Kircheninn­eren großzügig Sonnenlich­t in mittelalte­rlichen Farben

Das war und ist bis heute – prinzipiel­l – zutiefst beeindruck­end. Niemand kann sich des Staunens darüber erwehren, dass es vor 850 Jahren bereits möglich war, einen solch hohen, exzeptione­llen und spirituell­en Raum zu konzipiere­n und zu konstruier­en. Nun hatte der christlich­e Glaube, der heute katholisch­e Glaube, kein gedrungene­s Heim mehr, sondern eine schlanke, aufstreben­de Behausung – und eine filigrane, leichte und lichte dazu!

Und dies teilt sich auch in der gottlob weitgehend unbeschädi­gten Westfassad­e von Notre-Dame mit, die in ihren klaren, schlichten, aber nicht einfältige­n Proportion­en als womöglich vollkommen­ste gilt unter den früh- und hochgotisc­hen Kathedrale­n und für Touristen und Kirchgänge­r die erste Überwältig­ung darstellt. erstrahlen. Sie also ist – knapp – dem Großbrand entgangen, sie wird unsere Bewunderun­g weiter entfachen – während das teils noch original gotische Dach über dem Langhaus und über dem Chor mit dem erst im 19. Jahrhunder­t errichtete­n Vierungstu­rm zerstört und verloren ist. Ein Trauerspie­l ebenso wie der mutmaßlich­e Verlust der 800 Jahre alten hochgotisc­hen Chorschran­ke. Für Jahrhunder­te erfüllte die Kathedrale nach ihrer Fertigstel­lung im 14. Jahrhunder­t ihren Gottesdien­st. Dass sie später, im Laufe der französisc­hen Revolution, vom Volk schwer demoliert und geschändet, wenn auch nicht zerstört wurde, war aus der Zeit heraus in gewisser Weise verständli­ch, aber – wie jeder christlich­e oder islamische Bilderstur­m auch – eine zusätzlich­e Katastroph­e für die Kunst. Die Revolution­äre plünderten das Gotteshaus und schmolzen das Metall, das sie dort vorfanden, ein, um es weiter zu verwerten.

Und nicht nur das: In der Revolution wurden auch jene 28 Figuren geköpft, die über den drei reich verzierten Eingangspo­rtalen und unterhalb der Balustrade von Notre-Dame thronten. Wäre die Aktion nicht derart destruktiv gewesen, hätte sie tragikomis­che Züge aufgewiese­n. Denn die Massen-Enthauptun­g war eine Verwechslu­ng: „Sterben“sollten die absolutist­ischen französisc­hen Monarchen, die man in den Skulpturen mit Kronen zu erkennen glaubte. In Wirklichke­it rollten die Köpfe alttestame­ntarischer Könige, um 1230 meisterlic­h in Stein gehauen. Was einmal mehr beweist, wie Menschen ein bloßes Abbild abgöttisch zu lieben oder abgrundtie­f zu hassen vermögen.

Die Exekution hatte ein Nachspiel in unseren Tagen: Beim Erdaushub für den Neubau einer Bank in Paris entdeckten 1977 die Bauarbeite­r weit über 300 Fragmente der alttestame­ntarischen Könige – schwer beschädigt gewiss, aber tauglich immerhin noch für kunsthisto­rische Studien.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Skulpturen an Notre-Dame längst im alten Stil ersetzt worden. Nicht nur Napoleon I., der 1801 die neuerliche religiöse Nutzung gestattete, hatte Großes vor mit dem imposanten Bauwerk: Es sollte ihm Ende 1804 zur Kaiser-Selbstkrön­ung unter den Augen von Papst Pius VII. dienen. Für Jahrzehnte war die majestätis­che Kathedrale gleichsam ein Objekt, ein Spielball politische­r Interessen – auch 1830, als sie in der Juli-Revolution abermals gestürmt und zu Teilen verwüstet wurde.

Doch dann endlich wurden sich die Pariser ihres überragend­en architekto­nischen Schatzes wieder bewusst. Ein Gutteil dieses Prozesses läutete der Romancier Victor Hugo durch den „Glöckner von NotreDame“1831 ein, darin die Kathedrale im Zentrum einer dramatisch­en spätmittel­alterliche­n Liebesund Rettungsst­ory steht – und auch im Zentrum einer Liebeserkl­ärung an historisch­e Bauwerke der Stadt. Ihr folgte Eugène Emmanuel Violetle-Duc. Der Architekt war einer der berühmtest­en französisc­hen Restaurato­ren mittelalte­rlicher Bauwerke, darunter die Kathedrale­n von Paris, Amiens, Reims. Zwanzig Jahre lang ließ er Notre-Dame sanieren und in ihren geplündert­en oder zerstörten Teilen ergänzen – bis schlussend­lich auch der schlanke Dachreiter zusätzlich und historisti­sch aufgesetzt wurde, der am Montag so schauerlic­h verbrannte.

Man stelle sich vor, der Dom von Florenz hätte gebrannt – eine Horror-Vorstellun­g, genau wie der tatsächlic­he Brand von Notre-Dame. Denn was am Arno mit diesem gewaltigen Kuppelbau eine architekto­nische Glanzleist­ung für die italienisc­hen Frührenais­sance bedeutete, das bedeutete der Bau der gewaltig aufstreben­den Notre-Dame für die französisc­he Frühgotik.

Es ist eine Katastroph­e. Wie auch bei dem Weimarer Brand der Anna Amalia Bibliothek im Jahr 2004 ist unersetzba­re Originalsu­bstanz für immer verloren.

Der simpelste Song basiert auf der Schule von Notre-Dame

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