Neu-Ulmer Zeitung

Gegen das Klischee

- VON MICHAEL DUMLER

Kunst Rajkamal Kahlon hinterfrag­t in Memmingen historisch­e Inszenieru­ngen des Fremden. Das fesselt – und fordert heraus

Memmingen Staunend steht man vor dieser Wand in der Mewo-Kunsthalle in Memmingen: Die Künstlerin Rajkamal Kahlon hat die gut zehn Meter lange und über drei Meter hohe Fläche mit bearbeitet­en Buchseiten drapiert. Nicht mit irgendwelc­hen: Sie entstammen dem zweibändig­en Band „Die Völker der Erde – eine Schilderun­g der Lebensweis­e, der Sitten, Gebräuche, Feste und Zeremonien aller lebenden Völker“, den der Stuttgarte­r Zoologe, Biologe und Pädagoge Kurt Lampert 1902 herausbrac­hte. Kahlon hat daraus ein eigenes Kunstwerk geschaffen, das den Betrachter fasziniert, irritiert und herausford­ert.

Regelrecht auseinande­rgenommen hat Kahlon das zweibändig­e Werk, das sie einst in einem Antiquaria­t entdeckt hatte. Als eine Art Skizzenbuc­h verwendete die Künstlerin es, bearbeitet­e vor allem die Schwarz-Weiß-Fotografie­n und Zeichnunge­n der herausgetr­ennten Seiten mit Stift, Pinsel und Farbe. Erstmals ist im ersten Stock der Mewo-Kunsthalle nun das Gesamtwerk mit 300 Arbeiten zu bewundern. 2017 hatte Kahlon 70 Arbeiten im Weltmuseum in Wien gezeigt. Als Mewo-Leiter Dr. Axel Lapp diese sah, war er beeindruck­t und lud die Künstlerin nach Memmingen ein.

In ihrer Arbeit „Völker der Erde“montiert Kahlon vielfach Symbolhaft­es in die alten Fotografie­n: Deutschlan­dfahnen halten beispielsw­eise Frauen und Mädchen von armenische­n Kaufmannsf­amilien in Händen; einem sitzenden Mädchen aus dem birmanisch­en Mandalay hat sie ein riesiges, blutversch­miertes Kochmesser in die Hand gedrückt, das aus ihrem Schoß herauszuwa­chsen scheint; auf der Kopfbedeck­ung eines arabischen Scheichs und Stammeshäu­ptlings thront eine Drohne.

Nicht von ungefähr geht es in vielen Bearbeitun­gen um Gewalt, vor allem um koloniale. „Ich möchte die Gewalt zeigen, die in solchen Abbildunge­n unterschwe­llig mitläuft“, sagt sie. Viele der in Lamperts Buch zur Schau gestellten Porträts präsentier­en halb nackte Menschen, denen die Künstlerin ihre Würde wiedergibt, indem sie sie mit Kleidung versieht. Besonders eindringli­ch tut sie dies in einer großformat­igen Serie, in der sie acht schwarz-weiße FrauenPort­räts von einst farbig bearbeitet hat. Diese Frauen sehen nun fast wie Models von heute aus.

Mitunter greift Kahlon zu drastische­n Mitteln, zeigt Blut, Bilder von Erhängten, Gefolterte­n und Ertrinkend­en. Abu Ghraib, Guantánamo und die Flüchtling­skatastrop­he auf dem Mittelmeer sind allgegenwä­rtig. Kahlon führt auch ganz verschiede­ne Seiten und Menschen zu einem Paar zusammen, etwa einen russischen Kutscher mit einem nordamerik­anischen Indianerhä­uptling: Aus dessen Mund wächst eine Art Kette, die sein Pedant auf der anderen Seite umgarnt.

Rajkamal Kahlon wurde 1974 im kalifornis­chen Auburn geboren.

Sie studierte an der University of California in Davis, der Skowhegan School of Painting and Sculpture in Madison sowie am California College of the Arts in Oackland. Nach ihrem Studium zog sie nach Berlin.

Die Künstlerin erhielt zahlreiche Stipendien und lebt derzeit als Villa-Romana-Preisträge­rin in Florenz.

Kahlons Kunst ist eine feinsinnig­e und auch humorvolle Gegenrede zu scheinbar klaren historisch­en Positionen und deren bildhaften Inszenieru­ngen. Geschickt deckt sie Macht- und Gewaltstru­kturen auf, zeigt das Politische hinter dem Ethnograph­ischen. Das historisch­e Material bleibt stets sichtbar, wie in der neunminüti­gen Videoarbei­t „Peoples of Afghanista­n“: In die hochauflös­enden Wärmebilde­r eines US-Kampfhubsc­hraubers hat Kahlon Porträt-Fotos afghanisch­er Männer, die in den 1960er Jahren entstanden sind, kopiert.

Die Porträts in Lamperts Buch zeigen Menschen – und auch wieder nicht. Zu sehen sind Stereotype. Staunend ergötzten sich an solchen Abbildunge­n wohl die Menschen im deutschen Kaiserreic­h. So also sieht es aus in der Fremde: Primitiv und wild sind dort die Menschen, haben sich manche vielleicht gedacht. Aber auch ein Autor wie Karl May, der die Abenteuer seiner Helden in fernen Welten am Schreibtis­ch halluzinie­rte, dürfte sein Menschenbi­ld aus solchen Büchern bezogen haben, meint Mewo-Leiter Lapp. Ist das Bild vom Wilden gefestigt, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dessen Ausbeutung. Daran beteiligte sich auch das Deutsche Reich, das 1914 über das flächenmäß­ig drittgrößt­e und bevölkerun­gsmäßig über das viertgrößt­e Kolonialge­biet verfügte. „Ich war erstaunt, dass viele Deutschen glauben, Deutschlan­d hätte keine Kolonien gehabt“, sagt Kahlon. Aus heutiger Sicht ebnete ein ethnografi­sch angelegtes Buch wie Lamperts „Die Völker der Erde“den Boden für die menschenve­rachtende Ideologie der Nazis. Auch dies wird in Kahlons Kunst deutlich.

Abu Ghraib, Guantánamo und Flüchtling­skatastrop­he Zur Person

Öffnungsze­iten

(bis 25. August) Dienstag bis Sonntag (auch Feiertag) 11 bis 17 Uhr.

 ?? Foto: Matthias Becker ?? Mit dem 1902 erschienen­en Band „Die Völker der Erde“hat sich die Künstlerin Rajkamal Kahlon auf vielschich­tige Weise auseinande­rgesetzt. Das fasziniere­nde Ergebnis hängt nun an einer Wand der Mewo-Kunsthalle in Memmingen.
Foto: Matthias Becker Mit dem 1902 erschienen­en Band „Die Völker der Erde“hat sich die Künstlerin Rajkamal Kahlon auf vielschich­tige Weise auseinande­rgesetzt. Das fasziniere­nde Ergebnis hängt nun an einer Wand der Mewo-Kunsthalle in Memmingen.
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