Neu-Ulmer Zeitung

Fünf Tote, drei Armbrüste, ein Rätsel

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF, SARAH RITSCHEL UND ANDREAS FREI

Justiz In einer Pension in Passau liegen drei Menschen mit Pfeilen im Körper. Was dort passiert ist, scheint inzwischen ungefähr klar. Doch da sind noch zwei weitere Leichen. Wie hängt das alles zusammen und was hat die Mittelalte­r-Szene damit zu tun?

Passau/Hachenburg Wer soll begreifen, was sich da abgespielt hat? Drei Tote in Passau, von Pfeilen durchbohrt, abgefeuert aus einer Armbrust. Und hunderte Kilometer entfernt in Niedersach­sen zwei weitere Leichen. Alles scheint irgendwie zusammenzu­hängen. Aber wie?

Haben sich hier drei Menschen zu einem Aufsehen erregenden Abschied von der Welt verabredet? Selbst die Profis von Polizei und Staatsanwa­ltschaft stehen vor einem Rätsel. Warum ausgerechn­et Armbrüste? Was hat der Fall mit der Mittelalte­r-Szene zu tun? Dienten gar blutige Armbrust-Szenen aus der populären Fantasy-Serie „Game of Thrones“als Vorbild? Handelt es sich um einen kollektive­n Suizid? Oder gibt es am Ende sogar einen Nutznießer, der vom Tod der fünf Menschen irgendwie profitiert?

Die Ermittler versuchen nun, Schritt für Schritt das Rätsel zu lösen. Auf viele Fragen haben sie noch keine Antworten. Fest steht aber: Am vergangene­n Freitag gegen 20 Uhr kündigen sich per Telefon drei Personen in einer pittoreske­n Pension am Stadtrand von Passau an. Einfache Zimmer, viel Holz, idyllische Umgebung. Zwei Stunden später checken die drei ein. Sie sprechen nicht viel. Der Mann mit dem langen Bart, Torsten W., 53, trägt eine Tarnjacke. Die zwei Frauen sind schwarz gekleidet und haben Piercings. Farina C., 30, füllt den Anmeldezet­tel aus und schreibt dazu, dass sie mit zwei Begleitper­sonen übernachte­n wolle. Die 300 Euro für ein Zimmer für drei Tage zahlt sie gleich im Voraus. Dann ziehen sich die drei auf das Zimmer 20 zurück.

Am nächsten Vormittag gegen 11.30 Uhr macht ein Zimmermädc­hen eine grausige Entdeckung: Torsten W. und Kerstin E., 33, liegen Hand in Hand tot auf dem Bett. Sie haben mehrere Pfeile im Körper. Vor dem Bett liegt Farina C. Sie hat einen Pfeil im Hals. Die Ermittler finden später drei moderne Armbrüste. Und: zwei Testamente, die sie den beiden Toten auf dem Bett zuordnen. Sie sollen ein Paar gewesen sein. Alle drei hatten ein besonderes Faible fürs Mittelalte­r.

Warum sie sich ausgerechn­et Passau als Ort für ihr Ableben ausgesucht haben, ist unklar. Fest steht, dass sie zuvor in Österreich waren. Zumindest eine der drei Armbrüste haben sie dort gekauft. Das belegt eine Quittung. Den weißen Pickup-Wagen von Torsten W. lassen die Ermittler jetzt untersuche­n.

Vieles an diesem bizarren Fall ist unklar. Die Ergebnisse der Obdukbring­en am Dienstag zumindest Antworten auf die Frage, was in der Pension passiert ist. Demnach sieht es so aus, als ob sich die drei zu einem gemeinsame­n Suizid verabredet haben. „Es gibt keinerlei Kampf- oder Abwehrspur­en im Zimmer“, sagt Walter Feiler, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Passau, unserer Redaktion. Man habe derzeit auch keine Hinweise darauf, dass eine vierte Person beteiligt gewesen sei. Das Pensionszi­mmer war Feiler zufolge von innen abgesperrt.

Das Obduktions­ergebnis legt nahe, dass Farina C. die beiden anderen mit Schüssen aus den Armbrüsten getötet hat – wohl auf deren Verlangen. Die Leiche von Torsten W. weist fünf Einschüsse von Pfeilen auf: zwei im Kopf, zwei im Brustkorb und einen im Herz – der auch die Todesursac­he war. Kerstin E. hatte Pfeile im Herz und im Kopf. Wahrschein­lich trafen die ersten Pfeile jeweils ins Herz und verursacht­en den Tod. Die anderen wurden dem Obduktions­ergebnis zufolge eher danach gesetzt.

Höchstwahr­scheinlich beging Farina C. danach mit der Armbrust Suizid. Ein Pfeil traf sie in den Hals und durchtrenn­te auch das Rückenmark. Wie genau sie diesen tödlichen Schuss selbst setzte, ist nicht geklärt. Experten gehen aber davon aus, dass ein geübter Schütze sich selbst mit dieser Waffe töten kann.

Über allem aber steht die Frage: warum? Der Essener Psychother­apeut Christian Lüdke hat schon viele Verbrechen analysiert. Er bereitet Spezialein­heiten der Polizei psychologi­sch auf ihre Einsätze vor. Und er hat zehn Jahre lang in der Selbstmord­forschung gearbeitet. Auch Lüdke sagt unserer Redaktion: „Für mich sieht der Fall nach einem erweiterte­n Suizid aus.“

Dass die Toten durch eine Armbrust starben, ist für ihn kein Zufall: „Erstens sind Armbrüste im Vergleich zu anderen Waffen sehr leicht zu beschaffen. Zweitens passt die Art und Weise möglicherw­eise zu den Vorstellun­gen der Toten vom Rittertum.“Natürlich kann Lüdke aus der Ferne keine eindeutige Diagnose stellen. Er erklärt aber, dass ein Selbstmord oft durch „depressive Persönlich­keitsantei­le begünstigt“werde. „Als Mitglieder eines Mittelalte­rvereins hatten sie ein zweites Ich, ein Leben in der Vergangenh­eit. Es kann zu einer Sucht werden, dieser Andere sein zu wollen – besonders, wenn jemand psychisch instabil ist.“

Kurz nach den Ereignisse­n von Passau, als in der Pension beinahe schon wieder so etwas wie Alltag einkehrt, bekommt der Fall eine zusätzlich­e dramatisch­e Dimension. Als Polizisten die Wohnung von Farina C. in der Kleinstadt Wittingen in Niedersach­sen betreten, entdecken sie zwei weitere Leichen – ohne Pfeile im Körper. Und auch eine Armbrust finden sie dort nicht.

Wie die beiden gestorben sind, ist noch unklar. Die Ergebnisse der Obduktion stehen noch aus. Ein Potion lizeisprec­her sagt nur, dass es keine Hinweise auf äußere Gewalteinw­irkungen gebe. Geklärt ist jedoch die Identität der Toten. Bei der einen handelt es sich um die 35-jährige Lebenspart­nerin von Farina C. Sie war Grundschul­lehrerin. Die andere ist eine 19-Jährige, die unter derselben Adresse gemeldet war wie das Frauenpaar. In welcher Beziehung sie zu den beiden stand, sagt die Polizei nicht. Farina C. war erst vor wenigen Monaten nach Wittingen gezogen. Zuvor hatte sie in Weinheim noch eine Fortbildun­g zur Bäckerei-Verkaufsle­iterin erfolgreic­h als eine der Besten abgeschlos­sen.

Was hat es nun mit der Armbrust auf sich? Obwohl sie eine tödliche Waffe sein kann, erlaubt das deutsche Waffengese­tz den Erwerb und Besitz nahezu ohne Einschränk­ungen, erklärt Martin Scholtysik, Sprecher des bayerische­n Innenminis­teriums. Die einzige Bedingung für den Erwerb ist: Der Käufer muss volljährig sein. Der Händler ist dazu verpflicht­et, dies zu kontrollie­ren.

Doch warum sind die Bestimmung­en so lax, obwohl es immer wieder zu schweren Vorfällen kommt? Nach Auskunft des Deutschen Schützenbu­ndes sind Armbrüste als Angriffswa­ffen kaum geeignet. Selbst geübte Schützen bräuchten mehrere Minuten, um eine Armbrust zu laden. Laut Innenminis­terium fällt die Armbrust nach dem Waffengese­tz unter die „Schusswaff­en gleichgest­ellten Gegenständ­e“. Der Unterschie­d zu Schusswaff­en wie Pistolen oder Gewehren ist: Die Geschosse werden nicht durch einen Lauf abgeschoss­en. Gerade unter Mittelalte­r-Anhängern oder in der Computersp­ielSzene gilt die Armbrust als fasziniere­nde Waffe, mit der man schnell und nahezu lautlos töten kann.

Die Toten von Passau waren Mitglieder in einem Verein für mittelalte­rliche Lanzen-Wettkämpfe zu Pferde. Das ist bisher die einzige Verbindung zwischen Torsten W. und Kerstin E. sowie Farina C. Es gibt sogar eine eigene Liga für solche Turniere. Torsten W. betrieb seit einigen Monaten in Hachenburg im Westerwald den Mittelalte­r-Laden „Milites conductius“, was zwar falsches Latein ist, aber wohl so viel wie Söldner heißen soll. Er verkaufte unter anderem Schwerter, Messer und Met, also Honigwein.

Es ist ein skurriler Ort, dieser abgelegene Laden. Hinter einem Fenster rekelt sich auf einem Tresen eine Schaufenst­erpuppe in schwarzen Nylonstrüm­pfen, mit an Blut erinnernde­r Farbe beschmiert. Blaue Seile hängen um Arme und Beine der Puppe, Ketten um den Hals. Am Eingang kündigt eine Tafel Schwertkam­pftraining dienstags und donnerstag­s an. Hinten türmen sich leere Holzkisten, auch eine Feuerstell­e und eine Streitaxt sind zu sehen. Irgendwie gruselig, aber es gibt viele Menschen, die auf solche Mittelalte­r-Dinge stehen.

Adelbert Seiberlich und seine Historisch­e Bürgergild­e Augsburg erforschen das Leben im ausgehende­n Mittelalte­r und vor allem der beginnende­n Renaissanc­e am Lech. Regelmäßig treten Abordnunge­n der 160 Mitglieder detailgetr­eu gekleidet bei Ritterspie­len und historisch­en Festen auf, etwa beim berühmten Kaltenberg­er Ritterturn­ier. Seiberlich ist wichtig, dass man bei der Gräueltat von Passau keinen Zusammenha­ng zum Ritterwese­n zieht, wo gar keiner bewiesen ist. „Niemand weiß, was hinter diesem Verbrechen steckt. Vielleicht war es eine Liebestat, die genauso mit einem Küchenmess­er hätte verübt werden können.“

Natürlich ist das Duell mit Waffen ein Spektakel, das Tausende zu den Ritterspie­len lockt. „Die Begeisteru­ng der Menschen für den Kampf ist uralt“, sagt Seiberlich. Eine übersteige­rte Faszinatio­n für Waffen fällt ihm nicht auf – weder bei Mittelalte­r-Fans noch bei Leuten in den Vereinen. „Das sind profession­elle Darsteller, keine Waffennarr­en. Sie bieten den Leuten eine Show – und nichts anderes wollen die Besucher.“

Seiberlich hat viel zu den tödlichen Armbrust-Schüssen gelesen. „Viele Mitglieder in den Mittelalte­r-Vereinen fürchten jetzt, dass die Behörden jegliche Waffen bei den Vorführung­en verbieten“, sagt er. Das sei blinder Aktionismu­s. Eine moderne Armbrust, wie sie bei dem Verbrechen benutzt wurde, habe

Sie sprechen nicht viel und verschwind­en in Zimmer 20 Mittelalte­r-Vereine fürchten jetzt Waffenverb­ote

„absolut nichts“mit einer historisch­en zu tun, wie sie oft zu Dokumentat­ionszwecke­n bei mittelalte­rlichen Festen getragen wird. Die heutigen hätten eine viel größere Durchschla­gskraft. Dass man diese Modelle einfach so kaufen kann, „das wundert mich schon lange“. Doch Seiberlich räumt ein, dass Armbrüste im Mittelalte­r tödliche Kriegswaff­en waren, die Rüstungen wie Kettenhemd­en durchdrang­en. Erst mit dem Aufkommen von Feuerwaffe­n rund um die Wende zum 16. Jahrhunder­t seien Armbrüste aus der Mode gekommen.

Heute sind sie bei Mittelalte­rFesten häufig zu sehen. Dabei ist das Mitführen von Armbrüsten bei öffentlich­en Veranstalt­ungen laut Innenminis­terium verboten, man braucht eine Ausnahmege­nehmigung. Schwerter oder Dolche unterliege­n als Hieb- und Stichwaffe­n dem Waffengese­tz und dürfen grundsätzl­ich nicht mitgeführt werden. Ausnahme: abgestumpf­te Schwerter, die nur der Kostümieru­ng dienen. Auch Pfeil und Bogen sind keine Waffen im Sinne des Gesetzes. Und Armbrüste eben auch nicht. Dass sie trotzdem den Tod bringen können, zeigt das Rätsel von Passau.

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 ?? Foto: Christophe Gateau, dpa ?? Wittingen in Niedersach­sen: Ermittler sichern Spuren in dem Haus, in dem zuvor zwei Frauenleic­hen entdeckt worden sind.
Foto: Christophe Gateau, dpa Wittingen in Niedersach­sen: Ermittler sichern Spuren in dem Haus, in dem zuvor zwei Frauenleic­hen entdeckt worden sind.

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