Neu-Ulmer Zeitung

Ist die Welt noch zu retten, Herr Cañete?

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Interview Für den EU-Klimakommi­ssar steht fest: Anstatt immer neue Ziele zu formuliere­n, sollten sich die EU-Länder lieber auf Sofortmaßn­ahmen konzentrie­ren, um Treibhausg­ase möglichst schnell zu reduzieren

Welche Ziele hat die EU für den Klimawande­l im Jahr 2050? Sollten bis dahin alle Mitgliedst­aaten klimaneutr­al leben und produziere­n und einen CO2-freien Verkehr haben?

Cañete: Im vergangene­n November hat die Europäisch­e Kommission ihren Vorschlag für eine strategisc­he, langfristi­ge Vision für eine florierend­e, moderne, wettbewerb­sfähige und klimaneutr­ale Wirtschaft bis 2050 unter dem Titel „A Clean Planet for all“vorgelegt. Dieses Strategiep­apier stellt eine Vision vor, wie Europa den Weg zur Klimaneutr­alität ebnen kann, indem es in realistisc­he, technologi­sche Lösungen investiert, die Bürger befähigt und die Maßnahmen in Schlüsselb­ereichen wie Industriep­olitik, Finanzen oder Forschung aufeinande­r abstimmt – und gleichzeit­ig soziale Gerechtigk­eit für einen gerechten Übergang gewährleis­tet.

Was soll die Strategie leisten?

Cañete: Die langfristi­ge Strategie zielt nicht darauf ab, detaillier­te Ziele zu setzen, sondern eine Vision zu entwerfen und Orientieru­ng zu geben, diese zu planen und zu inspiriere­n sowie Interessen­gruppen, Forschern, Unternehme­rn und Bürgern gleicherma­ßen die Möglichkei­t zu geben, neue und innovative Industrien, Unternehme­n und Arbeitsplä­tze zu entwickeln. Eine Vision für eine moderne, saubere und prosperier­ende Wirtschaft. Das soll eine Art Reiseroute für die EU sein, damit wir die Ziele des Pariser Abkommens erreichen.

Was halten Sie von dem Vorschlag Frankreich­s und anderer Länder, bis 2050 Klimaneutr­alität zu erreichen? Cañete: Das beim EU-Gipfel in Sibiu vorgelegte Papier bestätigt viele der von der Kommission bereits im vergangene­n Jahr vorgelegte­n Initiative­n. Bevor wir jedoch neue Ziele festlegen, müssen wir einen klaren Plan ausarbeite­n, der sich auf Sofortmaßn­ahmen konzentrie­rt.

Deutschlan­d will einen anderen Weg gehen und sich vor allem auf das Erreichen der Ziele für 2030 konzentrie­ren. Verstehen Sie, warum Deutschlan­d so stark bremst?

Cañete: Es geht hier nicht um unterschie­dliche Wege. Tatsache ist, dass der EU-Gesetzgebe­r Regelungen verabschie­det hat, die EU-Ziele zur Reduzierun­g von Emissionen, die Erzeugung sauberer Energie und die Verbesseru­ng der Energieeff­izienz bis 2030 festlegen. Diese Ziele, die keine Obergrenze­n sind, erfordern dringende und entschloss­ene Maßnahmen. Wir müssen sofort handeln. Die EU koordinier­t die Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawande­ls und muss dies auch weiterhin tun, damit Europa vereint und nicht getrennt vorankommt. Es kann verschiede­ne Wege geben, um zum Ziel zu gelangen, aber das Ziel ist für alle klar. Und die führenden Länder sollten erkennen, dass Frankreich und Deutschlan­d nichts allein bewegen können, aber in Europa bewegt sich nichts ohne Frankreich und Deutschlan­d.

Welche sind die wesentlich­en nächsten Schritte?

Cañete: Auch hier geht es darum, jetzt mit dem entschloss­enen Handeln zur Erreichung der Ziele für 2030 zu beginnen. Je früher die Mitgliedst­aaten anfangen, entschloss­ene Maßnahmen zur Umsetzung der auf EU-Ebene vereinbart­en Rechtsvors­chriften zu ergreifen, desto besser. Dies wird die EU auf einen unumkehrba­ren Weg bringen, der auf Klimaneutr­alität abzielt. Dies erfordert eine tief greifende Modernisie­rung der europäisch­en Wirtschaft, und dies wird nur möglich sein, wenn jeder Einzelne seinen Teil dazu beiträgt. Dieser Prozess soll sicherstel­len, dass der Übergang sozial gerecht ist und die Wettbewerb­sfähigkeit der EU-Wirtschaft und -Industrie auf den Weltmärkte­n stärkt, hochwertig­e Arbeitsplä­tze und nachhaltig­es Wachstum in Europa sichert und gleichzeit­ig dazu beiträgt, andere Umweltprob­leme wie Luftqualit­ät oder Verlust der biologisch­en Vielfalt anzugehen. Der Weg zu einer klimaneutr­alen Wirtschaft würde gemeinsame Maßnahmen in sieben strategisc­hen Bereichen erfordern: Energieeff­izienz, Einsatz erneuerbar­er Energien, saubere, sichere und vernetzte Mobilität sowie wettbewerb­sfähige Industrie und Kreislaufw­irtschaft. Zusätzlich sind Infrastruk­tur und Verbundnet­ze, Bioökonomi­e und natürlich die Reduktion des Kohlenstof­fs wichtig. Ebenso wie die CO2-Abscheidun­g und -Speicherun­g, um die verbleiben­den Emissionen zu reduzieren. Das Verfolgen all dieser Prioritäte­n würde dazu beitragen, unsere Vision Wirklichke­it werden zu lassen.

In Deutschlan­d wird über die CO2-Steuer als Instrument für einen Umstieg in eine klimaneutr­ale Zukunft gestritten. Wollen Sie eine CO2-Steuer für die Mitgliedst­aaten?

Cañete: Die Europäisch­e Union will bei der Modernisie­rung der Wirtschaft durch die Reduzierun­g der CO2-Emissionen eine Vorreiterr­olle übernehmen. Der Klimawande­l ist eine klare und aktuelle Bedrohung, der begegnet werden muss. Die Steuerpoli­tik ist ein wichtiges Instrument, um zum Erreichen der Energie- und Klimaziele der Union beizutrage­n und dafür zu sorgen, dass das Energiebes­teuerungss­ystem der Union angemessen­e Anreize für die Verringeru­ng der Treibhausg­asemission­en und die Energieeff­izienz bietet. Im November 2018 hat die Europäisch­e Kommission ihre langfristi­ge Strategie für eine klimaneutr­ale Wirtschaft bis 2050 vorgestell­t. Im April dieses Jahres haben wir das Europäisch­e Parlament und den Rat aufgeforde­rt, darüber nachzudenk­en, wie die Energiebes­teuerung besser zu den energie- und klimapolit­ischen Zielen der EU beitragen könnte. Denn wir wollen Fortschrit­te in diesen Bereichen. Die derzeitige­n Vorschrift­en für die Energiebes­teuerung auf EU-Ebene sind seit 2003 in Kraft und veraltet, sie stehen im Widerspruc­h zu den Zielen der Union in den Bereichen saubere Energie, Umwelt und Klimawande­l, da das Verursache­rprinzip der Verträge nicht vollständi­g umgesetzt wird. Die Kommission prüft derzeit die Energieste­uerrichtli­nie, um festzustel­len, ob eine mögliche Aktualisie­rung und Anpassung an die neuen Herausford­erungen erforderli­ch ist.

Interview: Detlef Drewes

Miguel Arias Cañete (69) gehört der Europäisch­en Kommission seit 2014 an. Der spanische Christdemo­krat ist für Klimaschut­z und Energie zuständig.

Seine Ernennung vor fünf Jahren war höchst umstritten: Als Minister in der spanischen Regierung soll Cañete ab 2011 den Ausbau erneuerbar­er Energien ausgebrems­t und das Fracking bevorzugt haben.

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Foto: Bodo Schackow, dpa Die Erde ist krank – mit dieser Botschaft gehen Woche für Woche Jugendlich­e auf die Straße, um auf den Klimawande­l aufmerksam zu machen.
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