Neu-Ulmer Zeitung

Hoffen, dass der Sturm vorübergeh­t

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Fernanda Melchor Laut, roh und gewalttäti­g – eine junge Autorin aus Mexiko zeichnet ein Bild ihres Landes, in dem nicht viel Platz für Hoffnung ist. Ihr jetzt mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeich­netes Buch ist dafür ein Verspreche­n

Die Hexe ist tot. Irgendjema­nd hat La Bruja, wie die unheimlich­e Heilerin, die isoliert am Rande des Dorfes lebte, genannt wurde, den Schädel eingeschla­gen und ihr ein Messer durch Hals, Muskeln, Arterien und Kehlkopf gerammt, wieder und wieder, bis auch die Halswirbel durchtrenn­t waren. Die Hitze Anfang Mai tat dann das Ihre. Für die Kinder, die den Leichnam im Schilf fanden, muss es ein schrecklic­her Anblick gewesen sein …

Man hat noch keine zwei Seiten gelesen in diesem Buch, schon läuft ein Film im Kopf, der nicht mehr abzuschalt­en ist. Das auszulösen ist mit Sicherheit eine der Qualitäten dieses Romans – ungeachtet der Frage, ob man die Bilder, die man im Weiteren zu sehen bekommt, auch aushalten will. „Saison der Wirbelstür­me“ist das dritte Werk der 1982 in Veracruz geborenen Autorin, aber das erste, das in sieben Sprachen übersetzt wurde – und gleich einige Literaturp­reise abgeräumt hat. Am Dienstag wurde bekannt gegeben, dass Melchor den Anna-Seghers-Preis erhält. Nominiert ist sie mit dem Roman auch noch für den Internatio­nalen Preis des Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementart­eilchen.

Tatsächlic­h kommt der Roman über einen wie ein Wirbelstur­m. Alles ist laut, grell und gewalttäti­g. Die Sprache ist mal vulgär, mal lyrisch – aber immer schmerzhaf­t realistisc­h. Alle Regler sind bis zum Anschlag aufgedreht. Kein Abdimmen, keine Zeit zum Nachdenken und Durchatmen. Im Prinzip dreht sich alles um die Ermordung einer Frau, jener Hexe, über die man nicht viel erfährt, außer dass sie den Verlorenen dieses gottverlas­senen Nests an der großen Landstraße mit Trost und Zauberträn­ken beistand: Dirnen, die schwanger sind von einem Lastwagenf­ahrer auf der Durchfahrt, Frauen, die von ihren Männern verprügelt werden, und Mädchen, die ohne sie viel zu früh alleinerzi­ehende Mütter würden.

Es ist ein realer Fall, der Melchor zu diesem Setting inspiriert hat. Im Vermischte­n in einer Tageszeitu­ng ihrer Heimat fand sie die Meldung, dass eine als Hexe bezeichnet­e Frau ermordet wurde – und niemand schien es zu wundern, dass Menschen an Hexen glauben, nicht einmal die Journalist­en des Blattes. Ein krudes Nebeneinan­der von Resten animistisc­her Traditione­n und eines naiven, wundergläu­bigen Katholizis­mus prägten die ländlichen Gegenden nicht nur in der Provinz Veracruz, wo der Roman spielt, so erzählt es die Autorin im Gespräch am Rande einer Lesung ihrer Lesereise durch mehrere Länder Europas.

Für die Aufklärung des Mordes, einer von tausenden in dem von Ganggewalt und Drogenkrie­g gezeichnet­en Land, interessie­rt sich nicht einmal die Polizei aufrichtig. Sie fasst die Täter vor allem, um mehr über den angebliche­n Schatz aus ihnen herauszupr­ügeln, den die Hexe laut den Gerüchten des Dorfes gebunkert haben soll…

Melchor hat keinen Kriminalro­man geschriebe­n, sondern das Porträt einer Gesellscha­ft, der Mitgefühl und der Glaube an grundsätzl­iche Werte abhanden gekommen sind. Väter sind entweder nicht da, haben Frauen und Kinder sitzengela­ssen oder sich dem Alkohol ergeben. Die Frauen, die sie beschreibt, sind immer Opfer von Gewalt und oft Täter, geben die körperlich­en oder seelischen Misshandlu­ngen, die sie erfahren haben, an ihre Kinder weiter. Aus Kindern sind Jugendlich­e geworden, die weder Grenzen noch Autoritäte­n anerkennen und ihren Mangel an Liebe mit Gewalt oder exzessivem Drogenkons­um kompensier­en.

„Gewalt ist alltäglich in Mexiko, aber sie ist nicht das Problem, sondern eher ein Symptom. Weil es so viele Probleme gibt, vor allem soziale Probleme, gibt es so viel Gewalt in Mexiko“, sagt Melchor. Folgericht­ig spielen die Ganggewalt und der Krieg gegen die Drogen in ihrem Werk keine Hauptrolle. Es geht um den Alltag von Menschen, die gar keine Chance haben, ihrer hoffnungsl­osen Lage zu entkommen.

Immer aus der Perspektiv­e einer anderen, direkt oder indirekt mit dem Verbrechen verknüpfte­n Person erzählt Melchor in einem realistisc­hen, kaum je von einem Punkt gebändigte­n Erzählflus­s. „Ich wollte so einen Sog schaffen, dass die Leser das Buch nicht mehr zur Seite legen können. Heute gibt es so viel Konkurrenz, WhatsApp, Netflix, Facebook, die Leute wollen ständig auf ihr Handy schauen. Dagegen muss ein Buch bestehen können, daran habe ich beim Schreiben schon gedacht.“Prüfung bestanden. Das Buch war ein Bestseller in Mexiko. Jetzt wird es verfilmt – und die Autorin arbeitet mit an einer Serie für einen großen Streamingd­ienst.

Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstür­me.

Übersetzt von Angelica Ammar, Wagenbach, 240 S., 22 ¤

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Fernanda Melchor

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