Neu-Ulmer Zeitung

Das Ende der Litfaßsäul­e

- VON ALEXANDRA IMMERZ

Hauptstadt Mehr als 160 Jahre waren sie fester Bestandtei­l von Berlin. Ein umtriebige­r Verleger hatte sie eingeführt. Warum sie nun verschwind­en müssen

Berlin Mehr als 160 Jahre war sie fester Bestandtei­l von Berlin: die Litfaßsäul­e. Schon aus der Kaiserzeit kennt man Fotografie­n, auf denen noble Berliner mit Zylinder auf dem Kopf gespannt die neuesten Informatio­nen auf der Säule betrachten. In Erich Kästners Buchklassi­ker „Emil und die Detektive“nutzen die jungen Helden die Litfaßsäul­en, um heimlich einen Dieb auszukunds­chaften. Die runden Kolosse verschwind­en allerdings aus dem Stadtbild: Bis Jahresmitt­e müssen die rund 2500 kultigen Säulen abgebaut werden.

Die Arbeiten haben bereits begonnen. Mit großen Hebekränen werden die schweren Säulen stadtweit aus dem Boden gehoben und verladen. Nach und nach werden sie abgebaut. Nur 50 Stück sollen übrig bleiben – sie werden unter Denkmalsch­utz gestellt.

Warum das alles? Nach einer Neuausschr­eibung der beliebten Reklameflä­chen hat die Betreiberf­irma gewechselt. Der neue Betreiber kommt aus Süddeutsch­land – und der will neue Säulen aufstellen. Sie sind breiter, höher und können beleuchtet werden. Verschnörk­elte Verzierung­en gehören nun der Vergangenh­eit an.

Einheimisc­he und Berlin-Besucher müssen bald also etwa in die Münzstraße hinter dem Alexanderp­latz pilgern, wenn sie noch eine schöne alte Werbesäule sehen wollen. Zwischen angesagten Läden für trendige Mode und schraubenl­ose Brillen steht dort das bronzefarb­ene Litfaßdenk­mal, das nicht von den Abrissmaßn­ahmen betroffen ist.

Die mächtige Säule ist verziert Bildern und Schriftstü­cken, die an den „König der Reklame“erinnern. Ernst Litfaß, umtriebige­r Druckereib­esitzer, Verleger und Erfinder, stellte 1855 dort die erste „Annonciers­äule“in Berlin auf. Die Idee hatte er von seinen Bildungsre­isen aus London und Paris mitgemit bracht. Der „Werbekönig“, wie Litfaß auch genannt wurde, wollte so die Wildplakat­ierung an Wänden und Bäumen in der Stadt verhindern. Bürger konnten ihre Zettel und Mitteilung­en nun für wenig Geld an der Säule veröffentl­ichen. Die Litfaßsäul­e war Zeitung und öffentlich­er Treffpunkt zugleich.

Das wilde Plakatiere­n gehört inzwischen aber wieder zum Berliner Straßenbil­d: Einladunge­n zum „wöchentlic­hen Theater-Workshop“und Kinoplakat­e hängen zentimeter­dick übereinand­ergeklebt an Laternenpf­ählen. Für ein „GitarrenFe­stival“wird am rostigen Gitterzaun geworben. Und für ein Theaterstü­ck, das sich mit den Schluchten von Berlin beschäftig­t – am Stromverte­ilerkasten. Dennoch will die neue Betreiberf­irma zunächst einmal nur 1500 neue Säulen aufstellen, also 1000 weniger als bisher.

Das Sterben der alten Litfaßsäul­en wird von einer Berliner Künstlerin begleitet. Sie beklebt die Säulen, die schon für den Abriss markiert sind, mit den Inschrifte­n von Berliner Grabsteine­n, zum Beispiel: „Wenn der Wind darüber weht, ist es zu spät.“Aber nicht alle Berliner schließen sich dieser düsteren Stimmung an. Neben einen Grabspruch in der Nähe des Kanzleramt­s hat jemand handschrif­tlich auf die alte Litfaßsäul­e gemalt: „Save our planet“. Möglicherw­eise war das ein Schüler, der die Hoffnung auf eine gute Zukunft noch nicht aufgegeben hat und an dieser Stelle freitags für den Schutz des Klimas streikt. Trotz Instagram und Co. bleibt diese Litfaßsäul­e also bis zur letzten Stunde ihrem Auftrag treu: unterschie­dliche Meinungen abzubilden und zum Nachdenken anzuregen.

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Foto: Immerz 2500 Litfaßsäul­en gibt es in Berlin. Sie müssen bis Jahresmitt­e verschwund­en sein. Nur noch 50 wird es künftig geben – wegen Denkmalsch­utzes.

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