Neu-Ulmer Zeitung

Totgeglaub­te leben länger

- VON ANDREAS KORNES

Es ist, als atme ein Totgeglaub­ter plötzlich tief ein, als lasse er frischen Sauerstoff durch die Lungen strömen und spränge elegant aus dem Bett, auf dem er viele Jahre gelegen hat. So in etwa geht es der Tour de France dieser Tage. Der Dauerpatie­nt ist auf dem Weg der Besserung. Das hat gleich mehrere Gründe. Der Wichtigste: Es ist spannend. Kurz vor dem Finale am Sonntag in Paris ist offen, wer dort als Gewinner vor dem Arc de Triomphe stehen wird. In den vergangene­n Jahren hatte immer ein einzelnes Team dominiert und früh für klare Verhältnis­se gesorgt.

Der Stimmung tut es zudem gut, dass mit Julian Alaphilipp­e und Thibaut Pinot gleich zwei Franzosen ganz vorne mitmischen. Ist ja schon ein paar Jahre her, dass Bernard Hinault 1985 in Gelb nach Paris radelte. Es folgten dunkle Jahre, die ihren Tiefpunkt in der Ära Lance Armstrong fanden. Dessen sieben Siege wurden längst gestrichen, der US-Amerikaner war bis zu den Ohren vollgepump­t mit illegalen Mittelchen.

Inzwischen hat sich auch diesbezügl­ich die Lage etwas entspannt. Von dem ganz harten Stoff sind die Profis abgekommen. Der Radsport hat im Zuge zahlreiche­r Skandale die Zahl der Kontrollen stark erhöht. Momentan scheint Doping deshalb eher in Mikrodosen angesagt, was den Nachweis erheblich erschwert. Betrug mit Eigenblut ist ein Klassiker, der offenbar ein Comeback erlebt und ebenfalls extrem schwer nachzuweis­en ist. Dazu kommt das Gerücht, ein Mittel namens Aicar sei im Einsatz. Und, Sie erraten es, auch dieses ist schwer nachweisba­r.

All das sind Vermutunge­n. Einige werden sich in ein paar Jahren bei Nachtests mit verbessert­en Methoden zu Fakten verdicken. Noch aber dürfen sich die Anhänger des gepflegten Pedalsport­s an die Tatsache klammern, dass es den letzten positiven Dopingtest während einer Tour im Jahr 2015 gab. Seitdem? Alles sauber. Natürlich. Die Unschuldsv­ermutung gilt auch für die neue deutsche TourHoffnu­ng Emanuel Buchmann. Er gehört zu der sechsköpfi­gen Spitzengru­ppe, die den Gesamtsieg unter sich ausmacht. Ab dem heutigen Donnerstag geht das Peloton für drei Tage in die Alpen. Dort wird zu sehen sein, warum es die schwerste Tour seit 15 Jahren ist, wie Streckenpl­aner Thierry Gouvenou sagt. Gut möglich, dass erst am Samstag und am letzten Berg eine Entscheidu­ng fällt. Es wäre das, was man dieser fasziniere­nden Sportart wünschen möchte. Auf dem Sterbebett hat sie lange genug gelegen.

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