Totgeglaubte leben länger
Es ist, als atme ein Totgeglaubter plötzlich tief ein, als lasse er frischen Sauerstoff durch die Lungen strömen und spränge elegant aus dem Bett, auf dem er viele Jahre gelegen hat. So in etwa geht es der Tour de France dieser Tage. Der Dauerpatient ist auf dem Weg der Besserung. Das hat gleich mehrere Gründe. Der Wichtigste: Es ist spannend. Kurz vor dem Finale am Sonntag in Paris ist offen, wer dort als Gewinner vor dem Arc de Triomphe stehen wird. In den vergangenen Jahren hatte immer ein einzelnes Team dominiert und früh für klare Verhältnisse gesorgt.
Der Stimmung tut es zudem gut, dass mit Julian Alaphilippe und Thibaut Pinot gleich zwei Franzosen ganz vorne mitmischen. Ist ja schon ein paar Jahre her, dass Bernard Hinault 1985 in Gelb nach Paris radelte. Es folgten dunkle Jahre, die ihren Tiefpunkt in der Ära Lance Armstrong fanden. Dessen sieben Siege wurden längst gestrichen, der US-Amerikaner war bis zu den Ohren vollgepumpt mit illegalen Mittelchen.
Inzwischen hat sich auch diesbezüglich die Lage etwas entspannt. Von dem ganz harten Stoff sind die Profis abgekommen. Der Radsport hat im Zuge zahlreicher Skandale die Zahl der Kontrollen stark erhöht. Momentan scheint Doping deshalb eher in Mikrodosen angesagt, was den Nachweis erheblich erschwert. Betrug mit Eigenblut ist ein Klassiker, der offenbar ein Comeback erlebt und ebenfalls extrem schwer nachzuweisen ist. Dazu kommt das Gerücht, ein Mittel namens Aicar sei im Einsatz. Und, Sie erraten es, auch dieses ist schwer nachweisbar.
All das sind Vermutungen. Einige werden sich in ein paar Jahren bei Nachtests mit verbesserten Methoden zu Fakten verdicken. Noch aber dürfen sich die Anhänger des gepflegten Pedalsports an die Tatsache klammern, dass es den letzten positiven Dopingtest während einer Tour im Jahr 2015 gab. Seitdem? Alles sauber. Natürlich. Die Unschuldsvermutung gilt auch für die neue deutsche TourHoffnung Emanuel Buchmann. Er gehört zu der sechsköpfigen Spitzengruppe, die den Gesamtsieg unter sich ausmacht. Ab dem heutigen Donnerstag geht das Peloton für drei Tage in die Alpen. Dort wird zu sehen sein, warum es die schwerste Tour seit 15 Jahren ist, wie Streckenplaner Thierry Gouvenou sagt. Gut möglich, dass erst am Samstag und am letzten Berg eine Entscheidung fällt. Es wäre das, was man dieser faszinierenden Sportart wünschen möchte. Auf dem Sterbebett hat sie lange genug gelegen.