Wird die Gesellschaft aggressiver?
Gewalt Es scheint, als ob die Zahl brutaler Straftaten immer höher wird. Statistiken besagen jedoch das Gegenteil. Doch wieso nehmen wir das nicht wahr?
Augsburg Anfang Juli, Mülheim: Eine Gruppe Jugendlicher – sie sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt – vergewaltigen mutmaßlich eine 18-jährige Frau und schlagen auf sie ein. Nur zufällig bemerken Nachbarn die Tat und rufen die Polizei. Ende Juli, Hauptbahnhof Frankfurt: Ein Mann stößt eine Frau und ihren achtjährigen Sohn grundlos vor einen einfahrenden Zug. Das Kind stirbt. Noch mal Ende Juli, Augsburg: Eine Spaziergängerin wird nach einer Auseinandersetzung mit einem Paar unvermittelt eine Treppe hinuntergestoßen. Sie hat Glück, wird nur leicht verletzt.
Gefühlt täglich machen Nachrichten wie diese die Runde. Vergewaltigungen, Totschlag, oder einfach allgemeine Aggression. All das gehört mittlerweile zum Alltag, könnte man meinen. Augenscheinlich wird die Gesellschaft immer aggressiver. Aber stimmt das?
Die Zahlen zumindest sprechen dagegen. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sagt: „Wir erleben zweifellos mehr Aggression in verbaler Im Verhalten an sich ist das aber völlig anders.“Er nennt Zahlen: In den vergangenen 30 Jahren habe sich etwa die Zahl der Kindstötungen pro 100 000 Einwohner um mehr als die Hälfte reduziert. Die der Sexualmorde sogar um mehr als 80 Prozent. Das findet sich auch in der Polizeilichen Kriminalstatistik wieder.
Zwar gibt es einzelne Straftatbestände, die heute deutlich häufiger vorkommen als noch vor einigen Jahren, etwa Rauschgiftkriminalität. Insgesamt aber nimmt die Zahl der Straftaten ab. Waren es 1987 pro 100 000 Einwohner knapp 7300 Fälle, sind es 2018 nur noch 6700. Der Kriminologe erklärt: „Besonders die Zahl der schweren Gewalttaten ist heute deutlich kleiner als vor zehn Jahren.“Das liege vor allem an verschärften Gesetzen und verbesserten therapeutischen Angeboten. Traumata etwa aus der Kindheit würden heute öfter behandelt, die davon Geschädigten so seltener zu Tätern, sagt Pfeiffer.
Wieso aber wird man im Alltag das Gefühl nicht los, dass sich Attacken wie in Mülheim, Frankfurt oder Augsburg häufen? Pfeiffer macht die Medien dafür verantwortlich: Filme, Computerspiele, das Internet. Überall sei die Darstellung von Gewalt in den Vordergrund gerückt. Zudem werde heute deutlich mehr über Einzelfälle berichtet. Der Kriminologe zitiert eine Auswertung, nach der TV-Sender Vorfällen wie Sexualmord heute sechs mal mehr Sendezeit einräumen als früher. „So etwas läuft in den Nachrichten, in Sondersendungen und auf allen Internetplattformen. Die Gesellschaft giert nach Gewalt.“
Auch Christian Lüdke, Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, beschreibt, dass die Fallzahl sinke. Allerdings, sagt er, nehme die Zahl der Körperverletzungen unter Jugendlichen zu. Die Gründe dafür seien vielfältig: So komme es vor allem auf die jeweilige Persönlichkeit des Täters und die Umstände seiner Tat an. „Kinder brauchen Zeit, Zuneigung und Zärtlichkeit. BekomInteraktion. men sie das nicht, hat das oftmals Folgen.“In Bezug auf die Tat in Mülheim erklärt er: „In einer Gruppe reicht eine Person mit erhöhter krimineller Energie aus, um die anderen anzustecken.“Das gelte für Jugendliche wie für Erwachsene.
Was Straftaten angeht, ist die Gesellschaft insgesamt also nicht aggressiver geworden. Ganz anders ist die Situation im Internet. Lüdke und Pfeiffer sehen dort eine Verrohung der Umgangsformen. Da wird beleidigt, gemobbt, sogar mit dem Tod gedroht. Beide Experten waren schon mehrfach selbst davon betroffen. Pfeiffer sagt: „Das hat sich definitiv zum Schlechteren verändert. Und damit tut sich die Gesellschaft keinen Gefallen.“Er spricht sich deshalb, ähnlich wie kürzlich auch die Unions-Politiker Wolfgang Schäuble und Manfred Weber, für eine Klarnamenpflicht aus: „Wir müssen das Internet so einrichten, dass jeder, der dort Hass und Hetze verbreitet, bestraft werden kann.“
Mit der überdrehten Debattenkultur beschäftigt sich auch Chefredakteur Gregor Peter Schmitz in seinem Leitartikel.
Unter Jugendlichen nimmt die Gewalt zu