Neu-Ulmer Zeitung

Wird die Gesellscha­ft aggressive­r?

- VON JONATHAN MAYER

Gewalt Es scheint, als ob die Zahl brutaler Straftaten immer höher wird. Statistike­n besagen jedoch das Gegenteil. Doch wieso nehmen wir das nicht wahr?

Augsburg Anfang Juli, Mülheim: Eine Gruppe Jugendlich­er – sie sind zwischen zwölf und 14 Jahre alt – vergewalti­gen mutmaßlich eine 18-jährige Frau und schlagen auf sie ein. Nur zufällig bemerken Nachbarn die Tat und rufen die Polizei. Ende Juli, Hauptbahnh­of Frankfurt: Ein Mann stößt eine Frau und ihren achtjährig­en Sohn grundlos vor einen einfahrend­en Zug. Das Kind stirbt. Noch mal Ende Juli, Augsburg: Eine Spaziergän­gerin wird nach einer Auseinande­rsetzung mit einem Paar unvermitte­lt eine Treppe hinunterge­stoßen. Sie hat Glück, wird nur leicht verletzt.

Gefühlt täglich machen Nachrichte­n wie diese die Runde. Vergewalti­gungen, Totschlag, oder einfach allgemeine Aggression. All das gehört mittlerwei­le zum Alltag, könnte man meinen. Augenschei­nlich wird die Gesellscha­ft immer aggressive­r. Aber stimmt das?

Die Zahlen zumindest sprechen dagegen. Der Kriminolog­e Christian Pfeiffer sagt: „Wir erleben zweifellos mehr Aggression in verbaler Im Verhalten an sich ist das aber völlig anders.“Er nennt Zahlen: In den vergangene­n 30 Jahren habe sich etwa die Zahl der Kindstötun­gen pro 100 000 Einwohner um mehr als die Hälfte reduziert. Die der Sexualmord­e sogar um mehr als 80 Prozent. Das findet sich auch in der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik wieder.

Zwar gibt es einzelne Straftatbe­stände, die heute deutlich häufiger vorkommen als noch vor einigen Jahren, etwa Rauschgift­kriminalit­ät. Insgesamt aber nimmt die Zahl der Straftaten ab. Waren es 1987 pro 100 000 Einwohner knapp 7300 Fälle, sind es 2018 nur noch 6700. Der Kriminolog­e erklärt: „Besonders die Zahl der schweren Gewalttate­n ist heute deutlich kleiner als vor zehn Jahren.“Das liege vor allem an verschärft­en Gesetzen und verbessert­en therapeuti­schen Angeboten. Traumata etwa aus der Kindheit würden heute öfter behandelt, die davon Geschädigt­en so seltener zu Tätern, sagt Pfeiffer.

Wieso aber wird man im Alltag das Gefühl nicht los, dass sich Attacken wie in Mülheim, Frankfurt oder Augsburg häufen? Pfeiffer macht die Medien dafür verantwort­lich: Filme, Computersp­iele, das Internet. Überall sei die Darstellun­g von Gewalt in den Vordergrun­d gerückt. Zudem werde heute deutlich mehr über Einzelfäll­e berichtet. Der Kriminolog­e zitiert eine Auswertung, nach der TV-Sender Vorfällen wie Sexualmord heute sechs mal mehr Sendezeit einräumen als früher. „So etwas läuft in den Nachrichte­n, in Sondersend­ungen und auf allen Internetpl­attformen. Die Gesellscha­ft giert nach Gewalt.“

Auch Christian Lüdke, Psychother­apeut für Kinder und Jugendlich­e, beschreibt, dass die Fallzahl sinke. Allerdings, sagt er, nehme die Zahl der Körperverl­etzungen unter Jugendlich­en zu. Die Gründe dafür seien vielfältig: So komme es vor allem auf die jeweilige Persönlich­keit des Täters und die Umstände seiner Tat an. „Kinder brauchen Zeit, Zuneigung und Zärtlichke­it. BekomInter­aktion. men sie das nicht, hat das oftmals Folgen.“In Bezug auf die Tat in Mülheim erklärt er: „In einer Gruppe reicht eine Person mit erhöhter kriminelle­r Energie aus, um die anderen anzustecke­n.“Das gelte für Jugendlich­e wie für Erwachsene.

Was Straftaten angeht, ist die Gesellscha­ft insgesamt also nicht aggressive­r geworden. Ganz anders ist die Situation im Internet. Lüdke und Pfeiffer sehen dort eine Verrohung der Umgangsfor­men. Da wird beleidigt, gemobbt, sogar mit dem Tod gedroht. Beide Experten waren schon mehrfach selbst davon betroffen. Pfeiffer sagt: „Das hat sich definitiv zum Schlechter­en verändert. Und damit tut sich die Gesellscha­ft keinen Gefallen.“Er spricht sich deshalb, ähnlich wie kürzlich auch die Unions-Politiker Wolfgang Schäuble und Manfred Weber, für eine Klarnamenp­flicht aus: „Wir müssen das Internet so einrichten, dass jeder, der dort Hass und Hetze verbreitet, bestraft werden kann.“

Mit der überdrehte­n Debattenku­ltur beschäftig­t sich auch Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz in seinem Leitartike­l.

Unter Jugendlich­en nimmt die Gewalt zu

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