Neu-Ulmer Zeitung

Mein altes neues Bonn

- VON GISBERT KUHN

Titel-Thema Mehr als 40 Jahre lang wurde am Rhein Bundespoli­tik gemacht. Auch für unseren ehemaligen Korrespond­enten Gisbert Kuhn waren es spannende Zeiten. Und heute? Ein persönlich­er Blick auf eine internatio­nale Stadt, die an vielen Stellen kaum mehr zu erkennen ist

Bonn Wir reden von Mitte der 1960er Jahre. Rund um den runden Tisch, der in einer Ecke des Restaurant­s im damaligen Bundestag stand, versammelt­e sich jeden Mittag eine Gruppe Journalist­en im fortgeschr­ittenen Alter. Während der Sitzungswo­chen des Parlaments schlendert­en, wie zufällig, immer Politiker daran vorbei – erkennbar in der Hoffnung, zum Platznehme­n aufgeforde­rt zu werden. Dieses Privileg wurde freilich nicht jedem Abgeordnet­en zuteil. Minister sollte er – eine politische „Sie“von Rang gab es noch nicht – schon sein, oder zumindest Staatssekr­etär, Parteivors­itzender oder Fraktionsc­hef.

Das war damals, keine Frage, eine polit-journalist­ische Klassenges­ellschaft. Aber nicht nur als Politiker, auch als junger Schreiberl­ing, der neu in Bonn war, schlich man um den Tisch medialer Größen und fragte sich: „Warum kommt keiner von diesen alten Säcken auf die Idee, mich dazuzubitt­en?“Und tatsächlic­h, auf diese Idee kam keiner.

Tempi passati, vergangene Zeiten. Vorbei die Zeit, als die

mit dem Wort „Bonn“begann. Vorbei die Zeit, als am Rhein Bundespoli­tik gemacht wurde. Vielmehr fragt man sich in diesen Tagen wieder, was ist aus der alten Hauptstadt geworden – 20 Jahre nach dem großen Umzug von Bundesregi­erung und Bundestag nach Berlin.

Wer heute nach Bonn kommt, wer den Rhein entlangspa­ziert, genießt nicht nur den Blick auf das romantisch­e Siebengebi­rge mit Petersberg-Hotel und Drachenfel­s, er kann auch bundesdeut­sche Geschichte erleben. 64 Stationen umfasst der „Weg der Demokratie“. Orte, die die deutsche Nachkriegs­geschichte geprägt haben.

Wer will, kann Führungen buchen. Und bekommt mit ein bisschen Glück sogar Erklärunge­n von Personen, die selbst ihren Anteil am Aufbau dieser Demokratie haben. Von Norbert Blüm zum Beispiel, dem scheinbar ewigen Arbeitsmin­ister unter Helmut Kohl. Oder von Rudolf Seiters, lange Kanzleramt­schef und Bundesinne­nminister, der nach einer tödlich verlaufene­n Festnahme zweier RAF-Terroriste­n im mecklenbur­gischen Bad Kleinen als Bundesinne­nminister zurücktrat. Es sind Begegnunge­n, die Geschichte durch Geschichte­n lebendig werden lassen. Das gilt natürlich auch für die eigene Erinnerung.

Der Weg führt weiter den Rhein entlang – und plötzlich findet man sich vor dem Haupteinga­ng des alten Bundeshaus­es, der früheren Heimat des Bundestags. Meine Güte, wie oft ist man hier hineingega­ngen – meist, um auf die Pressetrib­üne des Plenarsaal­s zu gelangen, oft aber auch, um einen Plausch in der Buchhandlu­ng zu halten. Wie oft kam hier ein Minister heraus, um sich im „Bundesbüdc­hen“auf der anderen Straßensei­te einen Knacker zu kaufen.

Das einstige Parlaments­gebäude und sein Umfeld haben in den letzten 20 Jahren ordentlich Veränderun­gen über sich ergehen lassen müssen. Vor allem seit die Vereinten Nationen Bonn einen völlig neuen, internatio­nalen Nimbus verliehen haben. Dank erfolgreic­her diplomatis­cher Lobby-Arbeit der Bundesregi­erung und energische­r kommunaler Anstrengun­gen haben sich 18 UN-Organisati­onen hier angesiedel­t. Darunter das oft bespöttelt­e „Sekretaria­t des Abkommens zur Erhaltung der europäisch­en Fledermaus-Population“, aber auch das „Sekretaria­t zur Klimapolit­ik“sowie wichtige Sparten der „Universitä­t der Vereinten Nationen“.

Nein, Bonn ist keineswegs in der politische­n Bedeutungs­losigkeit versunken. Der normale „Bönnsche“freilich registrier­t keinen besonderen Unterschie­d zu den 40 Regierungs­jahren. Gut, damals konnte es schon mal passieren, dass man Hans-Dietrich Genscher am Wochenende beim Einkaufen begegnete. Heute bekommt man stattdesse­n auf dem Markt höchstens unbekannte Sprachen zu hören – die Stadt ist eben bunter geworden. Als Zugeständn­is an die neue Internatio­nalität hat die Stadt einen neuen Bahnhof bekommen. Na ja, eher einen Haltepunkt. Der „UNCampus“zwischen Bonn und Bad Godesberg soll vor allem UN-Bedienstet­en den Weg zum Arbeitspla­tz erleichter­n.

Meist nimmt der Bonner die „UN-Stadt“ziemlich gelassen hin. Aber Kritik gibt es, natürlich. Schon, weil das einstige Regierungs­viertel durch die immense Bautätigke­it sein Gesicht nach und nach verloren hat. Weil der Bau eines Kongressze­ntrums samt Luxushotel, den die Vereinten Nationen gefordert hatten, die Stadt an den Rand der Pleite brachte. Oder die UNKlimakon­ferenz 2017, die die finanziell klammen Fidschi-Inseln ausrichten sollten, für die dann aber die Bundesregi­erung einspringe­n musste. Die Folge: 117 Millionen Euro Kosten und für viele Monate 55 000 Quadratmet­er zerstörter Rasen im Rheinaue-Freizeitpa­rk.

Ein paar Minuten später steht man vor dem „Langen Eugen“. Der Kubus war früher das Arbeitszen­trum der Abgeordnet­en und mit 115 Metern lange das höchste Gebäude Bonns. Von einem bestimmten Punkt im obersten Stockwerk aus hatte man den Eindruck, hoch über der Mitte des Rheins zu stehen. Seinen Spitznamen hat es übrigens dem eher klein gewachsene­n früheren Bundestags­präsidente­n Eugen Gerstenmai­er zu verdanken, der den Bau seinerzeit gegen massive öffentlich­e und mediale Widerständ­e durchgebox­t hatte.

O ja, Gerstenmai­er. Mit diesem Namen verbindet der junge Korrespond­ent ganz eigene Erinnerung­en. Die Arbeitsräu­me der allermeist­en Berichters­tatter, muss man wissen, befanden sich bis Mitte 1976 in ziemlich primitiven Baracken gegenüber dem Eingang des Bundeshaus­es. Die Wände waren so dünn, dass man hören konnte, was der

20. Juni 1991 Der Bundestag entscheide­t sich mit knapper Mehrheit für seinen Umzug nach Berlin.

11. Dezember 1991 Nach einem Beschluss der Bundesregi­erung werden die Ministerie­n zwischen Bonn und Berlin aufgeteilt – ein Teil bleibt in Bonn und hat nur einen Dienstsitz in Berlin, ein Teil geht nach Berlin.

12. Oktober 1993 Die Bundesregi­erung legt fest, dass die infrage kommenden Ministerie­n zwischen 1998 und 2000 ihren Hauptsitz nach Berlin verlegen.

18. Januar 1994 Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker verlegt seinen Sitz nach Berlin. Kollege nebenan den nächsten Tag in seiner Zeitung veröffentl­ichte. Es sei denn, die Fernschrei­ber ratterten zu laut. Die Baracken gehörten dem Deutschen Bundestag; die Presse war dort also nur zur Miete und im Zweifel von der Gunst des Parlaments­präsidente­n abhängig. Gerstenmai­er war ein hoch gebildeter und intelligen­ter Mann, aber auch eitel und für Kritik gar nicht empfänglic­h. Immer wenn er etwas Unerfreuli­ches über sich las, hagelte es in den Pressebara­cken Mietkündig­ungen.

Auf dem Gelände der Baracken erhebt sich jetzt der graue, hässliche Monumental­bau des World Conference Center Bonn (WCCB) samt Fünf-Sterne-Hotel und unterirdis­cher Verbindung zum ehemaligen Zentrum des westdeutsc­hen Nachkriegs­parlamenta­rismus. Dort, im berüchtigt­en Bundestags­restaurant, paarte sich am 20. Oktober 1971 historisch­es Geschehen mit simplem

10. März 1994 Der Bundestag billigt das Berlin/Bonn-Gesetz, das die Aufteilung der Ministerie­n zwischen den Städten und die Ausgleichs­maßnahmen für Bonn regelt.

27. September 1996 Der Bundesrat beschließt, ebenfalls nach Berlin zu ziehen.

19. April 1999 Der Bundestag eröffnet das Reichstags­gebäude mit einer feierliche­n ersten Sitzung.

5. Juli 1999 Der Umzug des Bundestags nach Berlin beginnt.

1. September 1999 Die Bundesregi­erung beginnt ihre Arbeit in Berlin.

2. Mai 2001 Das neue Bundeskanz­leramt wird eröffnet. Journalist­englück. Ein Mitarbeite­r der SPD-Bundestags­fraktion rannte gestikulie­rend durch das Restaurant. Zu verstehen war nur „Willy“und „Nobelpreis“.

Das zuständige Komitee in Stockholm hatte kurz zuvor seine Entscheidu­ng verkündet, Willy Brandt wegen dessen Ostpolitik den Friedensno­belpreis zu verleihen. Im Restaurant hielt sich zu dem Zeitpunkt Hermann Höcherl auf, CSUMann und früher einmal Bundesinne­nminister. Der Christsozi­ale rief aufgeregt: „Nobelpreis für Brandt. Das ist doch eine Ehre für Deutschlan­d. Ich muss ihm gratuliere­n.“Und weil Höcherl einen „Chauffeur“brauchte, wurde der Reporter Zeuge der Freudenpar­ty im Brandt-Haus auf dem Venusberg. Exklusiv, versteht sich …

Der 20. Juni 1991 ist noch so ein Moment, den man nicht vergisst. Um 21.47 Uhr verkündete Rita Süssmuth, damals Bundestags­präsidenti­n, das Parlament habe mit 337 gegen 320 Stimmen beschlosse­n, Berlin solle wieder Hauptstadt des inzwischen vereinten Deutschlan­ds werden. Für die tausenden auf dem Marktplatz versammelt­en Bürger schien in diesem Moment die Welt unterzugeh­en. Es war nicht nur die Existenzan­gst von Ladeninhab­ern oder Immobilien­händlern, die Unlust gegenüber der demnächst erforderli­chen Mobilität, sondern zuvorderst das Unbehagen vor dem Unbekannte­n, Neuen dort im Osten.

– war von dort schon jemals etwas Gutes gekommen?

Nur die älteren Jahrgänge dürften sich noch an die erbitterte­n Kämpfe um Mehrheiten für oder gegen Bonn erinnern. An die Drohung der Berliner um den damaligen Regierende­n Bürgermeis­ter Eberhard Diepgen, sie würden eine Niederlage nie akzeptiere­n. Und nach wie vor hält sich die Mär, es sei – quasi im Alleingang – Wolfgang Schäuble mit seiner mitreißend­en Pro-Berlin-Rede gewesen, der damals die Entscheidu­ng herbeiführ­te. Tatsächlic­h war es Helmut Kohls langjährig­er Weggefährt­e und späterer erbitterte­r Feind Heiner Geißler, der den entscheide­nden Kompromiss namens Berlin/Bonn-Gesetz zimmerte. Das besagt: Sechs Ministerie­n behalten ihren ersten Dienstsitz in Bonn, hinzu kommen „per Gesetz“Post, Postbank und Telekom plus Einrichtun­gen der Vereinten Nationen, die sich in den früheren Parlaments­gebäuden und rund um den einstigen Bundestag ansiedeln.

Ja, Bonn hat sich verändert. Das spürt so mancher, der nach Jahrzehnte­n wieder hierherkom­mt und Mühe hat, sich zurechtzuf­inden. Wo sich einst das alte Bonner Stadion befand, ragt jetzt das höchste Bauwerk Bonns in den Himmel – der trotz seiner gewaltigen Ausmaße elegant wirkende Tower der Deutschen Post. Das Adenauer-Hochhaus der CDU ist verschwund­en, ebenso das SPD-Zentrum gegenüber. Was man hier, zwischen „Alt“-Bonn und dem Stadtteil Bad Godesberg, sieht, ist erfolgreic­her Strukturwa­ndel allerorten. Allerdings sind in diesen auch rund eine Milliarde Euro geflossen. Während das Regierungs­viertel um das Jahr 1990 knapp 21000 Arbeitsplä­tze bot, sind es heute mehr als 45 000.

Die Stadt wächst – auf mittlerwei­le

Mit ein bisschen Glück erklärt Norbert Blüm die Stationen Der Umzug vom Beschluss bis zum Kistenpack­en Eine Milliarde Euro sind in die Bundesstad­t geflossen

330 000 Einwohner. Und: Sie ist erkennbar jünger geworden. Keine Frage, davon haben die alteingese­ssenen Bekleidung­s- und Ausstattun­gshäuser wenig, sie sind praktisch verschwund­en. Dafür boomt die alternativ­e Musikszene. Wirtschaft­lich ist der Wandel ohne Zweifel weitgehend geglückt. Abgesehen mal vom leidigen Wohnungspr­oblem sowie den fehlenden Kitaplätze­n und den Dauerbaust­ellen.

Wie sich das neue, jüngere Bonn verändert hat? Schon zu Hauptstadt­zeiten konnte der aufmerksam­e Beobachter ein seltsames Phänomen ausmachen: Es gab nicht das Bonn, sondern eigentlich drei – das traditione­ll bürgerlich­e, das universitä­re und das politische. Diese drei haben sich nie wirklich vermischt, sondern ihr jeweiliges Eigenleben geführt. Ob sich daran etwas ändert?

Das politische Bonn jedenfalls kann sich noch immer auf das Berlin/Bonn-Gesetz verlassen, das der alten Hauptstadt einen Sonderstat­us einräumt. Sechs von 14 Bundesmini­sterien haben demnach ihren Hauptsitz am Rhein. Darüber, wie zeitgemäß diese Regelung ist, wird regelmäßig aufs Neue diskutiert. Und so ganz ausgeschlo­ssen ist es nicht, dass irgendwann der Totalumzug der Regierung an die Spree beschlosse­n werden könnte. Die Bonner, so viel ist klar, werden dann wieder jammern. Noch ließe sich auf Basis des Gesetzes feilschen über die Ansiedlung weiterer Bundesbehö­rden. Man darf nur den rechten Zeitpunkt nicht verpassen.

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Foto: Kosecki, Imago Images Das internatio­nale Bonn: Am Platz der Vereinten Nationen findet sich das Kongressze­ntrum, der „Lange Eugen“, dahinter der Post-Tower.
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Foto: Schwarz, Imago Images Ein geschichts­trächtiger Ort: Im Museum Koenig begann die Arbeit des Parlamenta­rischen Rats, der das Grundgeset­z ausarbeite­te.
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Foto: Rainer Unkel, Imago Images Das, was auch der Besucher von Bonn kennt: Blick auf die Stadt, den Rhein und das Siebengebi­rge.
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Foto: Oliver Berg, dpa Kann sich sehen lassen: Die Villa Hammerschm­idt ist der Bonner Dienstsitz des Bundespräs­identen.
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