Neu-Ulmer Zeitung

Das traurige Schicksal der Findelkind­er

- VON STEPHANIE SARTOR UND ANDREAS SCHOPF

Drama Die Geschichte des Babys, das auf einer Wiese im Landkreis Dillingen gefunden wurde, bewegt ganz Bayern. Wie es dem Kind geht und wie häufig Säuglinge eigentlich ausgesetzt werden

Unterglauh­eim Die Wiese ist schon länger nicht mehr gemäht worden. Bis zu den Knien reichen die Halme der Gräser und Blumen, durch die der Fußgängerw­eg in 50 Meter Entfernung nur zu erahnen ist. Nebenan grast ein Pferd hinter einem Zaun. Hier, an diesem verlassene­n Fleckchen Erde am Rande des 600-Seelen-Dorfes Unterglauh­eim im Landkreis Dillingen, kommen für gewöhnlich nur wenige Menschen vorbei. Einer ist Wolfgang Heilmann. Der 62-Jährige geht dort ab und zu mit seinen beiden Pudeln Gassi. Auch an jenem Montag vor einer Woche. Es sollte ein schicksalh­after Spaziergan­g werden.

Heilmann stößt durch Zufall auf ein Neugeboren­es, das nackt zwischen Gras und Löwenzahn auf der Erde liegt. Vom Bauch hängt noch ein Stückchen Nabelschnu­r weg, über den winzigen Körper krabbeln Ameisen. Den Anblick, wie der Kleine hilflos und verlassen im Gras liegt, wird Heilmann so schnell nicht vergessen. „Die Bilder holen mich immer wieder ein“, sagt er tags darauf.

An jenem Montag wählt Heimann sofort den Notruf – und rettet dem Buben das Leben. Er kommt mit einem Hubschraub­er in die Augsburger Kinderklin­ik. Tagelang kämpft er um sein Leben. Nun ist klar: Der Säugling ist außer Lebensgefa­hr. Die Mutter, deren geistige Leistungsf­ähigkeit offenbar eingeschrä­nkt ist und die von der Lebenshilf­e begleitet wird, sitzt in Untersuchu­ngshaft. Der 31-Jährigen wird versuchter Totschlag, gefährlich­e Körperverl­etzung und Aussetzung vorgeworfe­n.

Der Fall aus dem Landkreis Dillingen bewegt auch den Neugeboren­enfacharzt Dr. Christian Voigt, der eine Praxis in Stadtberge­n bei Augsburg hat. „Das ist eine extreme Gefährdung des Kindeswohl­s“, sagt Voigt, der auch der Vorsitzend­e des Berufsverb­andes der Kinder- und Jugendärzt­e für Augsburg und Nordschwab­en ist. Ganz generell sei es bei Babys so, dass sie sehr schnell auskühlen, erklärt der Mediziner. Hinzu komme, dass sie unter der unterbroch­enen Nährstoffz­ufuhr leiden. „Babys sind sehr auf einen normalen Blutzucker angewiesen“, sagt Voigt. Nach der Geburt werde das Kind für gewöhnlich an die Brust der Mutter gelegt, damit es die erste Milch trinken kann, die den Blutzucker reguliert. Bekommt ein Kind über einen längeren Zeitraum zu wenig Nährstoffe, drohen im schlimmste­n Fall Langzeitfo­lgen, etwa eine verzögerte Entwicklun­g, weil das Gehirn in Mitleidens­chaft gezogen wurde.

Immer wieder kommt es vor, dass Babys ausgesetzt werden. Die Fälle sind aber dennoch – glückliche­rweise – selten. Nach Angaben des Bayerische­n Landeskrim­inalamtes gab es im Jahr 2018 im Freistaat drei Aussetzung­en von Kindern unter drei Jahren. Allerdings hat die Statistik ihre Tücken. Denn: Liegt ein sogenannte­s höherwerti­ges Delikt vor – also etwa Totschlag oder Mord –, dann wird der Fall in der Statistik nicht mehr als Aussetzung gelistet.

Das Kinderhilf­swerk Terre des Hommes hat durch Medienrech­erchen eine jährliche Mindestfal­lzahl von Aussetzung­en in Deutschlan­d erhoben. 2017 wurden demnach mindestens 19 tote und vier lebende Säuglinge entdeckt, 2018 waren es elf tote und vier lebende Neugeboren­e.

Ein Fall, der in letzter Zeit für Aufsehen sorgte, ist der aus dem Münchner Stadtteil Neuperlach. Dort war im vergangene­n Sommer ein Bub im Gebüsch entdeckt worden, nackt, mit nur noch knapp 26 Grad Körpertemp­eratur. Die Mutter hatte nach der Geburt die Nabelschnu­r durchgebis­sen und den Buben liegen lassen. Eine Passantin fand das Neugeboren­e – und rettete ihm so das Leben. Die Mutter, die im August 2018 hochschwan­ger nach München gekommen war, um eine Internetbe­kanntschaf­t zu treffen, wurde vor wenigen Wochen verurteilt. Die 27-Jährige muss wegen versuchten Totschlags und Misshandlu­ng von Schutzbefo­hlenen siebeneinh­alb Jahre in Haft.

Zu Tränen rührte die Menschen auch das Schicksal von Franziska. Das Mädchen kam im Juli 2015 auf der Toilette eines Parkhauses am Münchner Flughafen zur Welt. Und Franziskas Leben wäre fast schon wieder zu Ende gewesen, bevor es richtig begonnen hatte. Denn die Mutter ließ die Kleine nach der Geburt einfach in der Kloschüsse­l liegen – und machte sich aus dem Staub. Eine Frau entdeckte damals das völlig unterkühlt­e und leblose Baby. Es wurde vor Ort wiederbele­bt und in ein Krankenhau­s geflogen. Das Kind überlebte. Seine Mutter, die aus dem baden-württember­gischen Heidenheim stammt, wurde zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Wie es für das Dillinger Findelkind weitergeht, ist noch unklar. Laut Jugendamt könnte der Säugling in eine Pflegefami­lie kommen.

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Foto: dpa Immer wieder werden Säuglinge ausgesetzt – die Fälle sind aber glückliche­rweise selten. Dieses Baby wurde im Jahr 2013 in den Niederland­en gefunden.
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Foto: Andreas Schopf Angelika und Wolfgang Heilmann fanden das Baby auf einer Wiese in Unterglauh­eim.

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