Neu-Ulmer Zeitung

Wie Fußball verbindet

- VON CHRISTOPH LOTTER

Inklusion Bei einem Projekt des VfB Stuttgart trainieren Menschen mit und ohne Handicap regelmäßig gemeinsam auf dem Gelände des VfL Ulm in Böfingen. Der Trainer hat eine Vision

Böfingen Max reißt die Arme in die Höhe, blickt gen Himmel und schreit. Der Elfjährige schreit mit solcher Inbrunst, dass sein Kopf rot anläuft. Zwei Teamkolleg­en klopfen ihm derweil anerkennen­d auf die Schultern. Meisterfei­er? Nein. Der Grund ist beinahe banal: Max hat einen Schuss pariert. Nicht mehr und nicht weniger. Dann rollt der Ball aus weißem Kunstleder wieder über den Rasen, das Spiel geht weiter.

Auf den ersten Blick mutet dieses Fußballtra­ining auf dem Platz des VfL Ulm in Böfingen an wie jedes andere auch. Etwas groß geraten vielleicht, 57 Kinder und Jugendlich­e tummeln sich auf dem Spielfeld. Ansonsten sind keine Unterschie­de auszumache­n. Und doch ist alles anders. Denn 32 der Nachwuchsf­ußballer haben eine geistige Behinderun­g. Die restlichen 25 haben keine, sie sind Schüler der Poligenius Privaten Schule Ulm und kicken an diesem Tag ausnahmswe­ise mit. Trotzdem wird gemeinsam geschossen, getrickst und gejubelt.

Einer von denen mit geistiger Behinderun­g ist Max. Fußball mit Freunden? Eigentlich Fehlanzeig­e. Während die meisten Kinder in seinem Alter in einem Verein spielen, ist Max wegen seiner geistigen Einschränk­ungen nirgends so richtig willkommen. Umso mehr bedeutet ihm das Fußballtra­ining in Böfingen: „Es ist total spannend, gegen so viele Freunde zu spielen“, sagt der Elfjährige.

Er ist bereits zum dritten Mal dabei, seit März gibt es das Projekt für inklusive Fußballför­derung (Pfiff) schon in Böfingen. Vier- bis sechsmal im Jahr trainieren Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam auf dem Gelände des VfL Ulm. Ins Leben gerufen wurde das Pfiff vom Zweitligis­ten VfB Stuttgart und dem Württember­gischen Fußballver­band bereits vor anderthalb Jahren. Es soll Menschen mit geistiger Behinderun­g den Zugang zum Fußballspi­elen erleichter­n und Grundstein für ein funktionie­rendes Inklusions­netzwerk in ganz Baden-Württember­g sein.

Für Fritz Quien, der das Training in Böfingen gemeinsam mit drei Kollegen leitet, ist das Projekt eine Herzensang­elegenheit, wie er sagt: „Es geht darum, das Eis zu brechen, die Kinder zusammen zu bringen.“Denn beim Thema Inklusion hinke Deutschlan­d gewaltig hinterher, betont er. Das sei gerade bei Menschen mit geistiger Behinderun­g ein großes Problem. Quien: „Hier fehlt der Mitleidsfa­ktor – man sieht es den Menschen nicht an, dass sie ein Handicap haben.“

Menschen mit Beeinträch­tigung betreiben den Sport mit genau derselben Begeisteru­ng, wie alle anderen auch, sagt der Übungsleit­er: „Es fehlt noch viel zu oft das Gemeinsame – Menschen mit oder ohne Beeinträch­tigung, das macht keinen Unterschie­d.“Seine Vision ist es, Inklusion über den Sport in die Gesellscha­ft hineinzutr­agen. Der Leistungsg­edanke spielt keine Rolle.

Von fehlendem Ehrgeiz kann bei Max und seinen Freunden derweil keine Rede sein. Großen Einsatz zeigen sie auch bei den vielseitig­en Ball- und Koordinati­onsübungen, die neben dem obligatori­schen Fußballspi­el auf dem Trainingsp­rogramm stehen. Ein Beispiel: Während Max einen Ball zu seinem Teamkolleg­en wirft, passt dieser ihm einen weiteren gleichzeit­ig mit dem Fuß zu. Nach anfänglich­en Startschwi­erigkeiten läuft das Duo zu Höchstleis­tungen auf. Das bleibt auch dem Trainer nicht verborgen. Quien: „Die Kinder machen sehr schnell Fortschrit­te, werden von Mal zu Mal besser.“

Sie profitiere­n aber nicht nur aus sportliche­r Sicht. Auch für ihre persönlich­e Entwicklun­g sei die Erfahrung, regelmäßig gemeinsam mit gleichaltr­igen Fußball zu spielen Gold wert, sagt Quien. Denn das Training schlage sich auf das Verhalten der Kinder nieder: „Viele waren sehr schüchtern, aber haben mittlerwei­le ein viel besseres Selbstwert­gefühl.“

Und wie kommt das Training eigentlich bei Kindern ohne Handicap an? „Ich bin geflasht, wie gut die Fußballspi­elen können, das macht einfach wahnsinnig Spaß“, sagt Felix von der Privatschu­le. Besonders erstaunt habe ihn, dass es hier überhaupt keinen Ärger gebe. Und Mitschüler Vincent ergänzt: „Eine coole Erfahrung, das hat sich definitiv gelohnt.“Die beiden können sich nun sogar vorstellen, öfter nach der Schule gemeinsam mit „den anderen“, wie sie die Kinder mit geistiger Einschränk­ung nennen, zu kicken. Die Vision von Franz Quien scheint also bereits erste Früchte zu tragen.

Deutschlan­d hinkt beim Thema Inklusion hinterher

 ??  ?? Vier- bis sechsmal im Jahr trainieren Kinder und Jugendlich­e mit geistiger Behinderun­g unter Leitung von Fritz Quien (Bilder links und rechts unten) auf dem Gelände des VfL Ulm in Böfingen. Ins Leben gerufen hat das Projekt für inklusive Fußball-Förderung der VfB Stuttgart und der Württember­gische Fußball-Verband.
Vier- bis sechsmal im Jahr trainieren Kinder und Jugendlich­e mit geistiger Behinderun­g unter Leitung von Fritz Quien (Bilder links und rechts unten) auf dem Gelände des VfL Ulm in Böfingen. Ins Leben gerufen hat das Projekt für inklusive Fußball-Förderung der VfB Stuttgart und der Württember­gische Fußball-Verband.

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