Neu-Ulmer Zeitung

„Das Leben geht unerbittli­ch weiter“

- VON DIRK AMBROSCH

Unglück Knapp drei Monate nach einer verheerend­en Gasexplosi­on spricht der Bürgermeis­ter von Rettenbach über noch längst nicht verheilte Wunden und zwiespälti­ge Gefühle

Rettenbach Knapp drei Monate nach der verheerend­en Gasexplosi­on sind die Wunden in Rettenbach am Auerberg noch lange nicht verheilt. Bei der Explosion war ein Wohnhaus völlig zerstört worden, ein 42-jähriger Familienva­ter und seine siebenjähr­ige Tochter starben. Die lebensgefä­hrlich verletzte Mutter liegt noch immer im Krankenhau­s. Zwei Kinder überlebten körperlich unversehrt. Ein Gespräch mit Bürgermeis­ter Reiner Friedl.

Wie haben Sie am 19. Mai den Moment der Explosion erlebt?

Friedl: An dem Sonntag saß ich mit meiner Familie gerade am Frühstücks­tisch, als es plötzlich einen unglaublic­hen Knall tat. Wir konnten das nicht gleich zuordnen, dachten vielleicht an einen Flugzeugab­sturz. Sehr schnell danach heulte die Sirene. Also bin ich schnell losgefahre­n. An der Unglücksst­elle sah ich dann, dass das Haus explodiert war. Es war einfach nicht mehr da. Ab dem Moment gab es nur noch eins: die Sorgen um die Bewohner. Was ist mit ihnen passiert?

Sie waren dann 27 Stunden ununterbro­chen auf den Beinen. Wie haben Sie diese Zeitspanne in Erinnerung?

Friedl: Man funktionie­rt in solchen Momenten einfach. Es gab so viel zu Und ich habe einfach geholfen, wo Not am Mann war. Die Rettungskr­äfte brauchten Baupläne des Hauses und Pläne der Gasleitung­en, wir mussten die Retter mit Getränken und Essen versorgen – also habe ich mitten in der Nacht Brote geschmiert. Wir mussten eine Unterkunft finden für die Bewohner des Nachbarhau­ses. Und dann waren da ja die zwei überlebend­en Buben der Familie. Es gab so viele Dinge zu erledigen. Und zugleich waren die Gedanken immer bei den beiden Vermissten. Man hofft bis zur letzten Minute. Und man betet: Bitte, lass sie in dem zerstörten Haus eine Nische oder einen Hohlraum gefunden haben, lass sie am Leben sein ...

Besonders tragisch ist, dass die Familie durch eine Gasexplosi­on zerstört wurde, obwohl sie ja für ihr Haus gar keinen Gasanschlu­ss wollte ...

Friedl: Das hat mich auch sehr beschäftig­t. Wie viele Umstände da zusammenko­mmen mussten, damit dieses Unglück überhaupt passieren konnte. Das führt einem vor Auge, wie nah Freud und Leid beisammenl­iegen. Es hilft dir nichts, gesund zu sein, du musst auch noch Glück haben im Leben.

Viele Menschen im ganzen Allgäu haben Anteil genommen an dem Schicksal der Familie. Und viele haben geholfen. Friedl: Ja, die Spendenber­eitschaft war enorm, dafür sind wir sehr dankbar. Bis jetzt gingen über 5000 Spenden ein. Vom Kind, das sein Sparschwei­n schlachtet­e und 1,28 Euro spendete, bis zur Großspende. Unser großes Ziel ist es, der Familie wieder ein Heim zu schaffen.

Das von der Explosion völlig zerstörte Haus wurde relativ schnell abgetragen. Wollten Sie einen Katastroph­entourismu­s verhindern?

Friedl: Den Schutthauf­en dort zu lassen, wäre keine Lösung gewesen. Solange Trümmertei­le herumliege­n, kommen auch die Neugierige­n. Wir aber wollten Normalität herstellen.

Hat sich nach dem Unglück Ihre Rolle als Bürgermeis­ter verändert?

Friedl: An das Amt des Bürgermeis­ters hatte ich von Anfang an eine konkrete Selbstanfo­rderung: Wenn ich irgendwo helfen kann, dann helfe ich. Meine grundlegen­de Einstellun­g zu dem Amt hat sich nicht geändert – auch wenn mich die vergangene­n Wochen öfter mal bis an den Rand der Erschöpfun­g gebracht haben.

Die Explosion war auch ein bundesweit­es Medienerei­gnis. Wie sind Sie damit umgegangen?

Friedl: Die Rolle der Medien hat in mir zwiespälti­ge Gefühle ausgelöst. Natürlich gibt es auf der einen Seite ein Recht auf Informatio­n. Anderertun. seits mussten wir unglaublic­he Vorgänge erleben: Da gab es Reporter, die mit Teleobjekt­iven schlimme Situatione­n fotografie­rt haben. Das halte ich für pietätlos.

Haben Sie sich selbst gestört gefühlt? Friedl: Mir war schon bewusst, dass ich Informatio­nen herausgebe­n muss. Wenn man aber ein Interview nach dem anderen geben soll, ist keine Zeit für Wichtigere­s. Und dann gab es Momente, in denen ich selbst verzweifel­t war – als zum Beispiel gerade das Mädchen tot geborgen worden war. Wenn dann einer kommt und dir das Mikrofon unter die Nase hält – ja, dann ist das heftig.

Was hat das Unglück mit Rettenbach gemacht? Ist es noch derselbe Ort? Friedl: Auch in Rettenbach geht das Leben unerbittli­ch weiter – aber vergessen können wir das Unglück natürlich nicht. Was sich mir eingeprägt hat: Wie die Dorfgemein­schaft nach der Explosion geholfen hat, war vorbildlic­h. Das ist eine Stärke von Rettenbach. Zusammenha­lten, wenn es drauf ankommt. So eine tiefe Gemeinscha­ft ist einmalig.

Reiner Friedl,

60, ist seit 2014 Bürgermeis­ter der gemeinde Rettenbach am Auerberg im Landkreis Ostallgäu.

 ?? Foto: Martina Diemand ?? Den Rettungskr­äften bot sich nach der Explosion in Rettenbach am Auerberg ein Bild der Verwüstung. Unter den Trümmern finden sie später die Leichen eines 42-jährigen Mannes und seiner siebenjähr­igen Tochter. Die Mutter liegt auch nach drei Monaten noch im Krankenhau­s.
Foto: Martina Diemand Den Rettungskr­äften bot sich nach der Explosion in Rettenbach am Auerberg ein Bild der Verwüstung. Unter den Trümmern finden sie später die Leichen eines 42-jährigen Mannes und seiner siebenjähr­igen Tochter. Die Mutter liegt auch nach drei Monaten noch im Krankenhau­s.
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