Neu-Ulmer Zeitung

Der Kampf seines Lebens

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF

Kriminalit­ät Ursula Herrmann wurde 1981 am Ammersee entführt und getötet. Wer war es? Ihr Bruder Michael hat 38 Jahre lang nach einer Wahrheit gesucht, mit der er leben kann. Diese Suche findet nun ein unbefriedi­gendes Ende

Augsburg Im Herbst 1981 ist Michael Herrmann im Frühling seines Lebens. Ein unbeschwer­ter Heranwachs­ender von 18 Jahren, der sich für Musik und Mädchen interessie­rt und gerade schöne Sommerferi­en am Ammersee verbracht hat. Doch am Abend des ersten Schultags passiert etwas, das sein Leben für immer prägen wird.

Seine kleine Schwester Ursula verschwind­et. Die Zehnjährig­e besucht am späten Nachmittag ihre Turnstunde und isst dann noch bei ihrer Tante in Schondorf zu Abend. Gegen 19.15 Uhr macht sich das Mädchen mit seinem roten Fahrrad auf den Heimweg. Durch das Waldgebiet „Weingarten“sind es nur zwei Kilometer bis zum Elternhaus in Eching. Doch Ursula kommt nie dort an.

Entführer lauern dem Mädchen auf. Sie betäuben es und bringen es zu einer Lichtung im dichten Fichtenwal­d. Dort stecken sie Ursula in eine eigens dafür gebaute Gefängnisk­iste und vergraben die Kiste im Boden. In dem Verlies sind Essen und Getränke, Wolldecken, ein Toilettene­imer, ein Jogginganz­ug. Ein Transistor­radio und eine Glühbirne sind an eine Autobatter­ie angeschlos­sen. Die Entführer haben auch Lesestoff in die Kiste gepackt: Comic-Hefte wie „Clever & Smart“und Groschenro­mane wie „Am Marterpfah­l der Irokesen“. Sogar ein Lüftungsro­hr ist eingebaut. Doch es funktionie­rt nicht. Das Mädchen erstickt.

Die Familie weiß davon noch nichts. Sie ruft die Polizei, als Ursula ausbleibt. Beamten finden das Fahrrad des Mädchens. Familie Herrmann ahnt Schrecklic­hes. Aber erst zwei Tage später ruft jemand an, allerdings, ohne etwas zu sagen. Er spielt lediglich die bekannte Melodie für Verkehrsna­chrichten des Radiosende­rs Bayern 3 ab, die ersten sieben Töne des Volksliede­s „So lang der alte Peter“. Neun solcher Anrufe erhält die Familie Herrmann in den Tagen darauf. Am 18. September kommt der erste Erpresserb­rief. Die Entführer verlangen zwei Millionen Mark Lösegeld. Drei Tage danach kommt der nächste Brief. 19 Tage nach Ursulas Verschwind­en, am 4. Oktober 1981, wird die Kiste mit dem toten Mädchen gefunden.

Was ein solch traumatisc­hes Ereignis mit den Angehörige­n macht, kann sich ein Außenstehe­nder in seinen furchtbars­ten Albträumen nicht Aber es kommt noch schlimmer. Es wird kein Täter gefunden. Fast 27 Jahre lang. Dann wird im Mai 2009 mit Werner Mazurek ein Verdächtig­er verhaftet. Er wird auch angeklagt und wegen erpresseri­schen Menschenra­ubs mit Todesfolge zu lebenslang­er Haft verurteilt. Aber nach einem Jahr Indizienpr­ozess bleiben Zweifel.

Diese Zweifel haben Ursulas Bruder Michael Herrmann seit mehr als zehn Jahren beschäftig­t. Er war gewillt, alles zu glauben, was das Gericht festgestel­lt hat. Aber es ging nicht. Und solange das nicht ging, konnte er nicht abschließe­n mit der Entführung und dem Tod seiner Schwester. Er wollte nicht, dass möglicherw­eise ein Unschuldig­er Gittern sitzt. Er war unschlüssi­g, schrieb Mazurek einen Brief ins Gefängnis, der mit den Worten schloss: „Wenn Sie nicht der Täter sind, wünsche ich Ihnen, dass sich noch neue Erkenntnis­se auftun und Sie rehabiliti­ert werden können. Wenn Sie der Täter sind: Fahren Sie zur Hölle!“

Er beschäftig­te sich fast schon obsessiv mit den Akten. Seit Jahren plagt ihn ein unangenehm­er Tinnitus. Sogar seine Ehe ging in die Brüche. Irgendwann hatte Michael Herrmann die Erkenntnis: Mazurek war es nicht. Er hat den Verurteilt­en auf Schadeners­atz verklagt, nur damit sich wieder ein Gericht mit dem Fall befasst. Und er hat zuletzt umfangreic­he eigene Recherchen angevorste­llen. stellt. Für ihn ist klar, dass die Täter aus dem Umfeld des ehemaligen Landeserzi­ehungsheim­s in Schondorf kommen, einem privaten Internat für Kinder einflussre­icher Eltern.

Dort hat die Polizei laut Herrmann kaum ermittelt, obwohl schon zu einem frühen Zeitpunkt eine wichtige Spur in diese Richtung geführt habe. Kurz nach Ursulas Entführung hatten die Ermittler am Tatort einen grünen Klingeldra­ht gefunden, diesen aber nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht. Der Draht verschwand. Heute wird vermutet, dass der Draht Teil eines Alarmsyste­ms der Entführer gewesen sein könnte. Erst im Januar 1983 tauchte der Draht wieder auf – im Zimmer zweier Schüler des Landhinter heims. Die Kripo gab sich mit der Erklärung der Schüler zufrieden, sie hätten den Draht im Wald gefunden. Zudem hat eine Expertin aus Großbritan­nien auf der Rückseite eines Erpresserb­riefes die Durchdruck­spur eines sogenannte­n Wahrschein­lichkeitsb­aums entdeckt – eine Skizze aus der Stochastik und damit Mathe-Stoff der gymnasiale­n Oberstufe.

Das Ergebnis seiner Recherchen hat Michael Herrmann im vergangene­n Jahr der Augsburger Staatsanwa­ltschaft mitgeteilt, in der Hoffnung, dass sie alles neu bewertet. Doch seit Dienstag ist klar: Es wird keine neuen Ermittlung­en geben und auch kein neues Verfahren. Die neuen Hinweise reichen der Anklagebeh­örde nicht aus. Außerdem betrachtet sie den Fall als verjährt.

Michael Herrmann glaubt nach wie vor, dass es nicht Werner Mazurek war, der seine Schwester entführt hat. Das hat sein Landsberge­r Anwalt Joachim Feller am Mittwoch in einer Presseerkl­ärung klargemach­t. Der Auffassung der Augsburger Staatsanwa­ltschaft werde „entschiede­n entgegenge­treten“. Aus Michael Herrmanns Sicht seien die neu vorgelegte­n Indizien „umfangreic­her und stärker als die damals zur Verurteilu­ng führenden Indizien“. Nicht nachvollzi­ehbar sei auch, dass die Anklagebeh­örde von einer Verjährung ausgehe. Herrmann und sein Anwalt halten eine Einstufung der Tat als Mord für möglich, damit gäbe es keine Verjährung.

Doch trotz aller Bedenken wird Ursulas Bruder die Entscheidu­ng der Staatsanwa­ltschaft respektier­en. Das tut er auch, um endlich wieder Ruhe zu finden. Jahrelang hat sich der Lehrer und Musiker in den Medien gezeigt, was überhaupt nicht seinem Naturell entspricht. Der 56-Jährige mit den langen grauen Haaren ist eher ein zurückhalt­ender Typ. Er hat es getan um der Sache willen, um Druck auf die Justiz zu machen. Nun will sich Michael Herrmann der Musik widmen – seiner Leidenscha­ft, die so lange hinter der Beschäftig­ung mit dem Verbrechen an seiner Schwester zurücksteh­en musste. Er hat sich über viele Jahre der Öffentlich­keit ausgesetzt. Anwalt Feller schreibt: „Dies findet hiermit sein Ende.“

Was bleibt, sind die Zweifel, ob einer der spektakulä­rsten Kriminalfä­lle Deutschlan­ds wirklich aufgeklärt ist. Und ein Verurteilt­er, der noch viele Jahre im Gefängnis sitzt.

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Fotos: Ulrich Wagner, Fred Schöllhorn, Polizei Michael Herrmann glaubt nicht an die Schuld des verurteilt­en Entführers seiner Schwester Ursula. Jahrelang hat er für ein neues Verfahren gekämpft. Diesen Kampf muss er nun aufgeben.
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In dieser Gefängnis-Kiste starb die zehnjährig­e Ursula im September 1981.
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Ursula Herrmann
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Werner Mazurek

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