Neu-Ulmer Zeitung

Der Eis-Bach in Kanada leuchtet anders als die Seine in Paris

- VON CHRISTA SIGG

Ausstellun­g Impression­ismus für eine junge Nation: Die Kunsthalle München zeigt die Malerei Kanadas aus den Jahren 1880 bis 1930. Viele Künstler lernten ihr Handwerk in Frankreich

München Man braucht schon etwas Geduld, bis es endlich schneit. Dann aber liegt der Schnee gleich so hoch, dass die Bäume fast bis zu den Wipfeln darin versinken. So stellt man sich Kanada vor – und Maurice Cullen trifft dieses Schlüsselm­otiv mitsamt Baumfäll-Szene bis in jedes frostige Detail.

1896 hat Cullen dieses Bild gemalt, da war er gerade wieder nach Montréal zurückgeke­hrt, um das schwüle Flirren der Pariser Parkalleen gegen die kühle Frische seiner Heimat einzutausc­hen. Mit seinem Künstlerfr­eund James Wilson Morrice brach er damals in die Natur nördlich von Québec auf. Die beiden wollten das, was sie im alten französisc­hen Zentrum der Kunst studiert und überzeugen­d umgesetzt hatten, auf die ihnen vertrauten Landschaft­en übertragen. Und nun fröstelt man förmlich, so eisig glitzert die Wintersonn­e auf den schneebede­ckten Hügeln und Feldern, die jetzt in der Kunsthalle München die letzten Räume dominieren.

„Kanada und der Impression­ismus“stehen im Mittelpunk­t der neuen Ausstellun­g, die nicht nur von einem besonderen Transfer erzählt, den es bekanntlic­h auch zwischen Frankreich und den europäiNac­hbarn gab. Die Schau aus kanadische­n Museen und Privatsamm­lungen – organisier­t von der National Gallery Ottawa, wo sie nach weiteren Stationen in Lausanne und Montpellie­r 2021 endet – führt auch die weitverzwe­igten und zum Teil ganz erstaunlic­hen Spezialitä­ten dieser Künstler zwischen 1880 und 1930 vor Augen. Eis-Bäche leuchten eben doch anders als das Wasser der Seine oder der Lagune von Venedig. Und die Lokomotive, mit der Clarence Gagnon um 1913 die Welt der Technik in die Bergregion von Charlevoix bei Québec einbrechen lässt, ist meilenweit entfernt von Claude Monets Zug, der 1877 in den Pariser Bahnhof SaintLazar­e dampft.

Doch es geht keineswegs nur um ein Vergleiche­n und Gegeneinan­derstellen. Neben der Gelegenhei­t, eine hierzuland­e ziemlich unbekannte Malerei kennenzule­rnen, ist vor allem das Ringen der kanadische­n Künstler interessan­t: zunächst um technische­s Können und angesagte Stile. Das manifestie­rt sich in städtische­n Szenen, in Landund Strandpart­ien, die man oft genug mit den Werken der französisc­hen Kollegen verwechsel­n könnte. Im nächsten Schritt bemüht man sich freilich um Abgrenzung und das Entwickeln mehr oder weniger landestypi­scher Sujets. Dafür war der Impression­ismus im Grunde völlig ungeeignet, aber man vergisst gerne, dass der Bundesstaa­t Kanada 1867 aus britischen und ehemals französisc­hen Kolonien entstand und sich die junge Nation nach Identifika­tion sehnte.

Akademien gab es nicht – wer sich zum Künstler ausbilden lassen wollte, musste schon nach Europa und am besten gleich nach Paris an die École des Beaux-Arts gehen, an der Salon-Stars der Zeit wie William Bouguereau und Jean-Léon Gérôme unterricht­eten. Oder an die privaten Akademien Julian und Colarossi, die fortschrit­tlicher waren und schon früh Frauen zum Studium zuließen.

Tatsächlic­h fallen die vielen Malerinnen auf, die sich zwischen ihren Kollegen ganz nonchalant behaupten. Laura Muntz zum Beispiel hatte einigen Erfolg mit ihren Kinderbild­ern, die im Spätwerk zwar ins Süßliche abdriften, aber zunächst in einem aufstreben­den jungen Land für Lebensfreu­de und Aufbruch standen. Mehr Eindruck macht heute das Werk der gehörlosen Helen McNicoll, die ihr Personal mit kraftvolle­m Pinselstri­ch durch lichtdurch­flutete Atmosphäre­n flanieren lässt und zwischendu­rch an die schwungvol­le Eleganz eines Joaquín Sorolla erinnert.

Und dann ist da noch die umwerfende Emily Carr, die viel herumschen kam und sich in San Francisco, London und Paris Inspiratio­nen holte. Auf originelle Weise mischt sie den späten Impression­ismus mit herrlich farbknalli­gem Fauvismus auf. Das zeigt vor allem ihr „Herbst in Frankreich“aus dem Jahr 1911.

Carr ist übrigens eine der wenigen und in der Ausstellun­g die einzige Künstlerin, die sich mit der indigenen Kultur Kanadas auseinande­rsetzt. Die Dorfansich­t „Gitwangak“(1912) wird von Totempfähl­en bestimmt, die sich weit in den pointillis­tisch durchgetup­ften Opal-Himmel stemmen – als wollten sie der für sie unheilvoll­en „Second Nation“entschwebe­n. Carr hat zeitweise bei den Indianern gelebt, auch um deren Lebensweis­e zu dokumentie­ren. Und sie wurde 1927 in die „Group of Seven“aufgenomme­n, einen einflussre­ichen Zirkel kanadische­r Landschaft­smaler, die den Abschluss dieser wohltuend unaufgereg­ten Schau bilden. Einer Schau, die ganz französisc­h mit den Pariser Boulevards beginnt und im Schnee endet. So wie es sich für Kanada gehört.

Ausstellun­g „In einem neuen Licht. Kanada und der Impression­ismus“bis

17. November in der Kunsthalle München, Theatiners­tr. 8. Täglich von 10 bis 20 Uhr, Katalog: 29 Euro in der Ausstellun­g (Arnoldsche Verlagsges­ellschaft)

 ??  ?? Maurice Cullen: „Moret im Winter“(1895), Öl auf Leinwand im Format 60 mal 92 Zentimeter.
Maurice Cullen: „Moret im Winter“(1895), Öl auf Leinwand im Format 60 mal 92 Zentimeter.

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