Neu-Ulmer Zeitung

Gefangen in der virtuellen Welt

- VON FELICITAS LACHMAYR

Serie (2) Bis zu zwölf Stunden am Tag saß Ronald Stolz aus Kellmünz am Computer und zockte Online-Rollenspie­le. Bis er sich selbst aus der Abhängigke­it befreite. Nun will er anderen Menschen helfen

Illertisse­n Er nannte sich Rollroll und kämpfte jeden Tag darum, weiterzuko­mmen. In das nächste Level, zu einem neuen Auftrag. Bis zu zwölf Stunden am Tag saß Ronald Stolz am Computer. Freunde treffen, gemeinsame­s Essen mit der Familie, Arbeit, Schlaf – das alles lenkte ab, von dem, was wirklich zählte. Dabei war alles nur ein Spiel.

Doch für Stolz war es bitterer Ernst. Zehn Jahre war er süchtig nach Online-Rollenspie­len – bis er sich aus der Abhängigke­it befreite. Heute will er anderen Menschen helfen, der virtuellen Spielewelt zu entkommen. Dafür hat er eine Selbsthilf­egruppe in Illertisse­n gegründet. Das Projekt steckt noch in der Anfangspha­se. Stolz weiß, wie schwierig es ist, Betroffene zu erreichen. Doch er setzt auch auf die Angehörige­n, denn sie seien mit der Situation genauso überforder­t und froh über Hilfsangeb­ote. „Ich sehe mich als Schnittste­lle, weil ich beide Seiten kenne“, sagt der Ex-Gamer.

Er weiß, dass hinter der Sucht oft eine Flucht aus dem Alltag steckt und die eigentlich­en Probleme woanders liegen. Allein mit der Figur Rollroll, die er im Spiel World of Warcraft entwickelt­e, verbrachte Stolz 276 Tage reine Spielzeit. „Das war nur eine von mehreren Figuren in verschiede­nen Spielen“, sagt der 38-Jährige aus Kellmünz. Nächtelang saß er am Rechner, schlief eine Stunde, schleppte sich in die Arbeit, um nach Feierabend weiterzuzo­cken. In zehn Jahren Spielsucht habe er alles erlebt. Vom Jugendlich­en über den Rentner bis zum erfolgreic­hen Geschäftsm­ann – alle Gesellscha­ftsschicht­en seien in der virtuellen Welt vertreten.

Online-Spiele wie World of Warcraft, das mit 5,5 Millionen Abonnenten zu den beliebtest­en Multiplaye­r-Online-Rollenspie­len weltweit zählt, geraten wegen ihres erhöhten Suchtpoten­zials immer wieder in die Kritik. Denn oft haben die Games kein Ende, die Spieler verlieren sich in Raum und Zeit. Über das Zusammensp­iel mit anderen entstehen Kontakte in der virtuellen Welt, die weiterläuf­t, wenn der Spieler offline ist. Die ständige Verfügbars­piele auch eine Rolle, weiß Stolz. „Die Probleme, vor denen man in der realen Welt flüchtet, holen einen in der virtuellen Welt wieder ein.“Denn auch dort ist man Kritik ausgesetzt, es entstehen soziale Abhängigke­iten, wer nicht gut ist, fliegt raus. „Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu spät zum Spiel kam“, erinnert sich Stolz. In der realen Welt bedeutete das: Ausreden finden, lügen, sich rechtferti­gen – gegenüber der Familie, den Freunden. „Das war das Schlimmste an der Sucht“, sagt Stolz. „Ich musste mich für eine Seite entscheide­n.“Seine Abhängigke­it hinterließ Spuren: anderer Freundeskr­eis, Rückenprob­leme, mehr Fast Food, Schlafmang­el, Lustlosigk­eit. Am Ende stand die Scheidung und Stolz vor der Frage: War’s das jetzt? Damit begann für ihn der Kampf zurück in die reale Welt. „Hilfsangeb­ote gab es kaum“, sagt der 38-Jährige. Also stürzte er sich in die Arbeit, um der virtuellen Welt zu entkommen.

Nach Angaben des Verbands der deutschen Games-Branche spielen mehr als 34 Millionen Deutsche Computer- und Videospiel­e. Weniger als ein Prozent zocken demnach exzessiv. Im vergangene­n Jahr erkannte die Weltgesund­heitsorgan­isation exzessives Computer- oder Videospiel­en offiziell als Krankheit an. Doch das Bewusstsei­n dafür fehlt, meint Stolz. „Die meisten verbinden Spielsucht immer noch damit, dass jemand vor einem Spielautom­aten sitzt.“Eine weitere Schwierigk­eit sieht der Ex-Gamer in der Benennung des Problems. Mekeit diensucht, Online-Spielesuch­t, Online-Sexsucht, Cyper-Mobbing, Abhängigke­it von sozialen Medien – das Spektrum ist vielfältig, die Begriffe nicht klar definiert. Auch gebe es immer noch relativ wenige Hilfsangeb­ote – gerade auf dem Land. „Hier ist die Spielsucht vermutlich ein noch größeres Tabu“, sagt Stolz.

Das will der 38-Jährige mit zwei Selbsthilf­egruppen für Betroffene und Angehörige ändern. Die Räumlichke­iten hat er in der Diakonie in Illertisse­n gefunden. Stolz wandte sich an das Ulmer Selbsthilf­ebüro Korn, nahm mit dem Fachverban­d Glücksspie­lsucht Kontakt auf und erstellte eine Internetse­ite samt Forum für Betroffene. Über sein Hilfetelef­on hätten sich schon mehrere verzweifel­te Eltern gemeldet. Im September hält Stolz einen Vortrag

auf dem Suchtkongr­ess in Mainz. Ihm geht es nicht darum, die digitale Welt zu verteufeln. Er will Bewusstsei­n schaffen und Prävention­sarbeit leisten.

Das Türchen, um der realen Welt zu entkommen, hält er sich immer noch offen. „Ich habe es nicht geschafft, das Spiel zu löschen“, sagt Stolz. Die Erfolgserl­ebnisse und Niederlage­n, die er in der virtuellen Welt erfahren hat, sind Teil seines Lebens. Ab und an zockt er noch. Um runterzuko­mmen, wie er sagt. Aber nur noch allein und ohne den Anspruch, weiterzuko­mmen.

Kontakt Weitere Informatio­nen gibt es auf www.die-letzte-quest.de. Neben der Selbsthilf­egruppe bietet Ronald Stolz täglich von 21 bis 22 Uhr ein Infotelefo­n unter 0176/34415051 an.

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Symbolfoto: Oliver Berg, dpa Die virtuelle Spielewelt ist beliebt: 34 Millionen Deutsche zocken nach Angaben des Verbandes der deutschen Games-Branche Computer- und Videospiel­e. Manche Games haben Suchtpoten­zial. Weniger als ein Prozent der Spieler zockt exzessiv.
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Foto: Christophe Gateu, dpa Das Online-Spiel World of Warcraft zählt zu den beliebtest­en Games weltweit. Die Figuren werden auch in der realen Welt gerne verkörpert.
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In der virtuellen Welt können Spieler ihre eigenen Charaktere erstellen.
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DONNERSTAG, 22. AUGUST 2019
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Ronald Stolz

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