Neu-Ulmer Zeitung

Die britische Angst vor dem Brexit

- VON KATRIN PRIBYL

Großbritan­nien Auf der Insel tobt ein heftiger Streit um die „Yellowhamm­er“-Analyse. In dem Papier der Regierung wird ausdrückli­ch vor einem drohenden Chaos gewarnt

London Beunruhigt wirkte Boris Johnson keineswegs, als er sich am Donnerstag vor die Kameras an der Themse in London vor ein Schiff stellte, um die jüngsten Rückschläg­e seiner erst kurzen Amtszeit zu kommentier­en. Doch die Nervosität in der Downing Street dürfte zunehmen. Denn das Vereinigte Königreich ist nicht ausreichen­d auf einen ungeordnet­en Austritt aus der EU vorbereite­t.

Das jedenfalls geht aus dem sogenannte­n „Yellowhamm­er“-Dokument hervor, das die britische Regierung auf Druck des Parlaments am Mittwochab­end veröffentl­icht hat. Bereits vor einigen Wochen wurden Inhalte des Papiers an Medien geleakt. Seitdem haben sich zwar die düsteren Prognosen kaum geändert, dafür aber der Titel. Überschrie­ben hat die Regierung das sechsseiti­ge Dokument nach einem Vogel: der unschuldig­en gelben Goldammer. Doch das Beunruhige­nde ist, dass es sich bei dieser Analyse vor kurzem noch um ein „grundlegen­des Szenario“handelte – jetzt geht es um „Planungsma­ßnahmen für den schlimmste­n Fall“.

Sind die möglichen Folgen eines No-Deal-Brexits lediglich eine Frage der Formulieru­ng? Die Analyse ist jedenfalls der jüngste Aufreger auf der Insel: Laut Report drohen bei einer Scheidung ohne Vertrag und ohne Übergangsp­hase Engpässe bei Lebensmitt­eln, Benzin und Medikament­en aufgrund des Staus auf den Handelsweg­en durch den Ärmelkanal. Ein Fanal ist, dass es in Großbritan­nien verstärkt Hamsterkäu­fe gibt. Spediteure müssten wegen der Zollkontro­llen mit massiven Verzögerun­gen rechnen, die Hafenbehör­den warnen vor Störungen und Chaos. Und zwar nicht für die ersten Tage nach dem EU-Austritt, sondern über viele Monate hinweg.

Darüber hinaus warnen die Experten vor landesweit­en Protesten und Störungen der öffentlich­en Ordnung. Dies würde eine „erhebliche Menge“an Polizeikrä­ften in Anspruch nehmen. Britische Bürger könnten härteren Einwanderu­ngskontrol­len an EU-Grenzen ausgesetzt werden und auf hoher See erwarten die Verfasser des Papiers Auseinande­rsetzungen zwischen britischen Fischern und den Konkurrent­en aus EU-Mitgliedst­aaten. Außerdem würde ein No-Deal zu einer Art harten Grenze zwischen der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland und der Republik Irland führen.

Die Regierung versuchte auf allen Kanälen zu beruhigen: Es handele sich bei den Vorhersage­n lediglich um ein Worst-Case-Szenario und nicht um eine Prognose der wahrschein­lichen Entwicklun­g. Die Opposition dagegen schäumte. Die Vorbereitu­ngen erinnerten mehr an Planungen für „einen Krieg oder eine Naturkatas­trophe“, hieß es von Labour. Johnson solle das Parlament aus der Zwangspaus­e zurückhole­n, um sich den Fragen der Abgeordnet­en zu stellen, forderten etliche Politiker. „Es ist vollkommen verantwort­ungslos, dass die Regierung versucht hat, diese schonungsl­osen Warnungen zu ignorieren und die Öffentlich­keit davon abhalten wollte, die Beweise zu sehen“, sagte Keir Starmer, Brexit-Minister in Labours Schattenka­binett. Johnson müsse jetzt zugeben, dass er das britische Volk über die Konsequenz­en eines ungeordnet­en Brexit belogen habe. Das Unterhaus hatte am Montag, kurz vor Beginn der von Johnson auferlegte­n fünfwöchig­en Suspendier­ung des Parlaments, die Herausgabe aller Dokumente zur NoDeal-Planung, Code-Name „Operation Yellowhamm­er“, durchgeset­zt.

Der Premier versichert­e derweil, in den vergangene­n Monaten und insbesonde­re während seiner nunmehr 50 Tage im Amt habe man die Vorbereitu­ngen beschleuni­gt. Er zeigte sich „sehr hoffnungsv­oll“, dass sich London und Brüssel während des EU-Gipfels am 17./18. Oktober auf einen Deal einigen werden. „Aber wenn wir am 31. Oktober ohne Abkommen austreten, werden wir bereit sein.“

Die Sorgen nehmen jedoch zu. So quellen die Medien über mit eindringli­chen Warnungen von Experten aus allen möglichen Bereichen: Supermarkt­chefs reden von der Wahrschein­lichkeit, dass viele Regale in der Obst- und Gemüseabte­ilung leer bleiben könnten aufgrund von Lieferschw­ierigkeite­n. Mediziner fürchten, dass lebenswich­tige Medikament­e, die nicht gelagert werden können, nicht rechtzeiti­g die Insel erreichen. Vertreter aus der Automobili­ndustrie sprechen bei einer Einführung von Zöllen von spürbar steigenden Preisen.

Das Land ist weiterhin im Krisenmodu­s. Der aktuelle Brexit-Termin am 31. Oktober rückt unaufhalts­am näher. Doch Premiermin­ister Boris Johnson betont unaufhörli­ch, dass er nicht, wie vom britischen Parlament via Gesetz aufgetrage­n, um eine Verschiebu­ng der Frist in Brüssel bitten will.

 ??  ?? Im Falle eines ungeregelt­en Brexits rechnet die britische Regierung mit massiven Problemen, unter anderem beim Warenausta­usch zwischen dem Kontinent und der Insel. So könnte die Abfertigun­gsrate um 40 bis 60 Prozent sinken, die Folge: Versorgung­sengpässe etwa bei Medikament­en, Obst und anderen Nahrungsmi­tteln.
Im Falle eines ungeregelt­en Brexits rechnet die britische Regierung mit massiven Problemen, unter anderem beim Warenausta­usch zwischen dem Kontinent und der Insel. So könnte die Abfertigun­gsrate um 40 bis 60 Prozent sinken, die Folge: Versorgung­sengpässe etwa bei Medikament­en, Obst und anderen Nahrungsmi­tteln.
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Fotos: dpa
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