Neu-Ulmer Zeitung

Vom Leben mit einem Beutel am Bauch

- VON SEBASTIAN MAYR

Serie (6) Ein künstliche­r Darmausgan­g verändert den Alltag – trotzdem bleibt für die Betroffene­n fast alles möglich. Die Mitglieder der Selbsthilf­egruppe Ilco Ulm-Vöhringen wollen anderen die Angst nehmen

Ulm Es ist ein Schritt, der vielen Angst macht. Manche Patienten denken vor der Operation, ihr bisheriges Leben gehe damit zu Ende: Ein Stückchen Darm wird durch eine kleine, runde Öffnung in der Bauchhaut nach außen geleitet und ein Beutel aus dünner, geruchsund­urchlässig­er Folie nimmt Stuhl oder Urin auf. Jutta Hertzig kennt die Angst aus Gesprächen mit Patienten. Die Frau aus dem südlichen Kreis Neu-Ulm trägt selbst ein Stoma, wie der künstliche Ausgang genannt wird. Sie sagt: „Erst nach der OP hat mein Leben angefangen.“

Jutta Hertzig litt an Morbus Crohn, einer chronische­n Darmerkran­kung. Jahrelang kundschaft­ete sie aus, welche Toiletten auf ihrem Weg liegen – jedes Mal, wenn sie das Haus verließ. „Dann habe ich entschiede­n: Das ist für mich kein Leben mehr“, erinnert sich Hertzig. Sie ließ sich operieren, 28 Jahre ist das her. Trotz anfänglich­er Probleme mit einem undichten Stomabeute­l betont die 58-Jährige: „Es hat die allerbeste Entwicklun­g genommen.“Hertzig bekam ein Kind und ist ganz normal berufstäti­g. Nur einen Fehler habe sie gemacht, sagt die Frau: Sie habe sich anfangs dagegen entschiede­n, zu den Treffen der Ilco-Ortsgruppe zu gehen: „In jungen Jahren denkt man, man kriegt das alles selber hin.“

Inzwischen geht Hertzig regelmäßig zu den Treffen und engagiert sich bei Krankenhau­sbesuchen, die die Gruppe anbietet. Die Ilco ist der deutsche Selbsthilf­everband von Menschen mit einem Stoma, der Name setzt sich aus den Anfangsbuc­hstaben der lateinisch­en Begriffe Ileum (Dünndarm) und Colon (Dickdarm) zusammen. Die Ilco ist aber mehr als ein Selbsthilf­everband, sie vertritt gleichzeit­ig die Interessen der Stomaträge­r gegenüber Politik und Krankenkas­sen. Die regionale Gruppe, Ilco Ulm-Vöhringen, ist vor etlichen Jahren aus dem Zusammensc­hluss zweier Ortsgruppe­n entstanden. Immer am zweiten Freitag eines Monats treffen sich 20 bis 30 Mitglieder und ihre Partner nachmittag­s in Schuberts Café in der Friedrichs­au. Und an einem Abend kommt die junge Ilco zusammen: Menschen zwischen 28 und 60 Jahren, die berufstäti­g sind und am Freitagnac­hmittag keine Zeit haben.

Was die Treffen der Ilco-Gruppe so wichtig macht, kann Jutta Hertzig mit einem einfachen Beispiel erklären: Die Probleme mit dem undichten Beutel hätte sie schneller in den Griff bekommen. Denn in der Ilco-Gruppe kommen Leute zusammen, die ähnliche Probleme haben. Probleme, bei denen auch viele Ärzte nicht weiterwiss­en, weil sie sich nicht gut genug auskennen.

Auch Karl-Dieter Werkmann hatte anfangs Schwierigk­eiten. Er vertrug den Kleber nicht, mit dem der Stomabeute­l befestigt war. Ein weiteres Thema, zu dem Ilco-Mitglieder Tipps geben können. Werkmann, 68 Jahre alt, lebt seit sechseinha­lb Jahren mit Stoma, DarmUlmer

krebs machte den Eingriff nötig. „Wenn ich zwei Jahre früher zur Darmspiege­lung gegangen wäre, hätten sie mir einen Polypen rausgeknip­st“, sagt er. „Es wäre so einfach gewesen.“Im Alltag spüre er sein Stoma kaum. Unterwegs bereite er sich vorsichtsh­alber auf alles vor: Er sieht nach, wo es Behinderte­n-Toiletten gibt, da dort WC und Waschbecke­n in einem Raum. „Ich lebe damit“, sagt der 68-Jährige. Und er geht offen damit um. Dass andere eine Scheu haben, kann Werkmann verstehen: „Ein Stoma ist etwas, das man nicht offen trägt. Und das Thema ist keins, über das man sich auf einer Party unterhält.“

Leiter der Ilco-Gruppe UlmVöhring­en ist Helmut Lerch, der im Alb-Donau-Kreis lebt. Sein Stoma trägt er seit bald vier Jahrzehnte­n. Lerchs Mutter starb an familiärer Polyposis, auch er selbst erkrankte daran. Sein Darm ließ sich nicht erhalten: „Jeder Polyp wäre bösartig geworden“, erinnert sich Lerch. Mit 25 ließ er sich operieren, 1980 war das. Sein Bruder lehnte den Eingriff ab – und wurde nur 46 Jahre alt.

Der Besuchsdie­nst der Ilco kam vor der Operation zu Helmut Lerch in die Klinik, das Gespräch nahm ihm Angst. „Das war ehrlich gut“, betont auch seine Ehefrau Marianne. Sie sagt: „Auch Angehörige sind betroffen, nur anders. Nichtbetro­ffene sind betroffen, wie sehr sie mitbetroff­en sind.“Auch für sie gibt es Treffen. „Der Partner soll nicht immer wissen, was einen belastet“, erklärt Marianne Lerch. Sie, ihr Mann, Jutta Hertzig und einige andere sind für den Ilco-Besuchsdie­nst unterwegs: in der Uniklinik und im Bundeswehr­krankenhau­s in Ulm, in der Stiftungsk­linik in Weißenhorn und im Alb-Donau-Klinikum in Blaubeuren. Es gibt feste Tage, die Ärzte vermitteln Kontakte.

Die Ilco bietet auch Hausbesuch­e an – alles, um Patienten kurz vor oder nach der OP Angst zu nehmen und Mut zu machen. Anfangs sei es eine Umstellung des Lebens, sagt Helmut Lerch. Doch dann gehe der Alltag ganz normal weiter. Und inzwischen laufen viele Eingriffe anders: Manche Patienten bekommen nur vorübergeh­end für ein paar Monate ein Stoma, bis sich der Darm erholt hat. Auch für die anderen bleibt fast alles möglich – außer Boxen, Gewichtheb­en und körperlich schwere Arbeit. Helmut Lerch geht zum Schwimmen und in die Sauna. „Man muss sich halt manchmal anpassen“, sagt Jutta Hertzig.

Kontakt Interessie­rte können über die Internetse­ite www.ilco.de Kontakt zur Ilco-Gruppe Ulm-Vöhringen aufnehmen. Das Selbsthilf­ebüro Korn ist unter Telefon 0731/88034410 und E-Mail kontakt@selbsthilf­ebuero-korn.de erreichbar.

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Foto: Alexander Kaya Karl-Dieter Werkmann, Jutta Hertzig sowie Marianne und Helmut Lerch (von links) gehören der Selbsthilf­egruppe Ilco Ulm-Vöhringen an.
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Symbolfoto: Bundesverb­and Medizintec­hnologie Ein Stück Darm wird durch eine Öffnung in der Bauchhaut nach außen geführt, ein Beutel nimmt Stuhl oder Urin auf.
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MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019

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