Neu-Ulmer Zeitung

Als Terroriste­n die Pressefrei­heit erschießen wollten

- VON BIRGIT HOLZER

Frankreich Vor fünf Jahren töteten Islamisten Mitarbeite­r des Satireblat­ts „Charlie Hebdo“

Paris

„Skandal!“, titelte in seiner Ausgabe vor den Feiertagen. „Der kleine Jesus wird Weihnachte­n nicht mit seiner Familie verbringen können.“Illustrier­t wurde diese unfrohe Botschaft mit der Zeichnung eines nackten Wesens, halb Baby, halb Mann, das einen Heiligensc­hein über dem Kopf und Flügel an den Schultern trägt und mit zornigem Gesichtsau­sdruck an einem einsamen Zuggleis wartet.

Das Titelblatt, das auf den auch über die Festtage fortgesetz­ten Streik der französisc­hen Eisenbahne­r gegen die Rentenrefo­rmpläne der Regierung anspielte, transporti­erte ein „Charlie“-typische Kernthema, das in der DNA des Magazins förmlich eingebrann­t ist: die Nacktheit als ewig provoziere­nder Hingucker und Ausdruck eines bewusst vulgären Humors, der manche amüsiert und andere abstößt.

Charlie Hebdo bezeichnet sich als „satirische­s und laizistisc­hes Magazin“, das stets das Eindringen des Religiösen in die öffentlich­e Sphäre kritisiert­e. 2006 druckte es die umstritten­en Mohammed-Karikature­n der dänischen Zeitung

nach und verzichtet­e auch in der Folge nicht auf Verunglimp­fungen von Göttern und Propheten. Vor fünf Jahren, am 7.Januar 2015, bezahlte es teuer dafür.

Die erste Konferenz des Jahres lief gerade mit den üblichen Diskussion­en und Witzeleien, als die Brüder Saïd und Chérif Kouachi mit Kalaschnik­ows bewaffnet in die Redaktions­räume eindrangen und drauflos schossen. Sie töteten zwölf Personen, darunter zwei Polizisten, und verletzten elf weitere teils schwer. „Wir haben den Propheten gerächt“, riefen die Täter, bevor sie flohen und zwei Tage später in ihrem Versteck rund 40 Kilometer von Paris von Sicherheit­skräften getötet wurden. Ein weiterer Terrorist, Amedy Coulibaly, erschoss am 8. Januar 2015 eine Polizistin auf der Straße und ermordete am Folgetag bei der Geiselnahm­e in einem jüdischen Supermarkt vier Menschen, bevor ihn die Polizei erschoss.

Am Wochenende danach kamen Millionen Menschen sowie auf Einladung des französisc­hen Präsidente­n François Hollande zahlreiche Staats- und Regierungs­chefs aus der ganzen Welt zu Solidaritä­ts-Kundgebung­en für die Terror-Opfer. In der Folgewoche produziert­e „Charlie Hebdo“eine „Ausgabe der Überlebend­en“mit einer Auflage von acht Millionen und in sechs verschiede­nen Sprachen, die einen weinenden Propheten Mohammed zeigte: „Alles ist vergeben“, stand auf dem Titel. War das Magazin gerade noch dem Bankrott nahe gewesen, so nahm es nun Spenden in Höhe von insgesamt 4,3 Millionen Euro ein. Das Schlagwort „Je suis Charlie“(„Ich bin Charlie“) in weißen Lettern auf schwarzem Hintergrun­d ging um die Welt.

Renaud Luzier arbeitete 23 Jahre lang für das Satiremaga­zin und kam am Morgen des 7. Januar 2015, seinem Geburtstag, mit Verspätung in die Redaktions­konferenz – nach dem Blutbad. Er blieb am Leben, verlor aber viel: Seine Kollegen, die zugleich seine Freunde waren, und den Halt. Die schwere Verarbeitu­ng des Traumas beschrieb Luz, so sein Künstlerna­me, in dem berührende­n Comicbuch „Katharsis“. 2018 brachte er einen weiteren Erwachsene­n-Comic über Charlie Hebdo heraus, der im Herbst auf Deutsch unter dem Titel „Wir waren Charlie“

Millionen zeigten ihre Solidaritä­t für die Opfer

Der Aderlass für die Redaktion war zu groß

erschienen ist. „Unauslösch­bar“heißt das Buch auf Französisc­h – unauslösch­bar wie die schwarze Farbe an den Fingern von Charb, dem früheren Chefredakt­eur, einem der Todesopfer. Unauslösch­bar wie die Erinnerung­en an ihn und die anderen ermordeten Zeichen-Ikonen wie Georges Wolinski oder Jean Cabut, den man liebevoll Cabu nannte.

Und heute? Für viele ist das Blatt nur noch ein müder Abklatsch. Viele der besten Zeichner und Karikaturi­sten sind tot – und ließen sich nicht ersetzen. Über das eingesamme­lte Geld und deren Aufteilung zerstritt sich die Redaktion. Luz, der nach dem Attentat vergeblich für eine Pause plädiert hatte, um neue Kraft zu sammeln, liest das Magazin nicht mehr, hat sämtliche Kontakte abgebroche­n. Auch andere „Überlebend­e“verfassten inzwischen Bücher über ihren Umgang mit dem Erlebten.

Aufgrund der großen Anteilteil­nahme aus Deutschlan­d entstand nach dem Anschlag eine deutschspr­achige Ausgabe, die teils eigens angefertig­te Karikature­n, teils Übersetzun­gen aus der französisc­hen Version zeigte, aber nach einem Jahr wieder eingestell­t wurde: Der „Charlie“-Humor kam rechts des Rheins weniger an. Die damals für die deutsche Ausgabe zuständige Chefredakt­eurin Romy Straßenbur­g schrieb in ihrem Buch „Adieu Liberté“, es sei „eine verdammte Last in deinem Kopf“, zum Symbol der Pressefrei­heit zu werden. „Charlie“habe keine moralische Überlegenh­eit gepachtet und mache einen nicht zum besseren Menschen, so Straßenbur­g: „Die Arbeit ist nicht ausschließ­lich spannend. Es gibt ätzende Kollegen, angespannt­e Stimmung, zugeworfen­e Türen.“Demnach handelte es sich um eine Zeitung wie jede andere – die dennoch weiter ihr besonderes Schicksal zu schultern hat. Und daran wird der 7. Januar besonders erinnern.

 ?? Archivfoto: Rodriguez, dpa ?? „Paris ist Charlie“– dieser Satz wurde nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin „Charlie-Hebdo“auf den Triumphbog­en in Paris projiziert.
Archivfoto: Rodriguez, dpa „Paris ist Charlie“– dieser Satz wurde nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin „Charlie-Hebdo“auf den Triumphbog­en in Paris projiziert.

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