Neu-Ulmer Zeitung

Eine fragwürdig­e Flucht

- VON FELIX LILL

Justiz Der ehemalige Nissan- und Renault-Boss Carlos Ghosn hat sich in den Libanon abgesetzt. In Japan könnte

der Coup schwere Folgen haben. Nicht nur für ein paar Beamte, sondern für die Rechtskult­ur im Land

Tokio Kein Justizflüc­htling sei er, behauptete der einstige Topmanager nach seiner gelungenen Flucht. Vielmehr sei er ungerechte­r Behandlung entkommen und politische­r Verfolgung entwichen. Carlos Ghosn, vor nicht allzu langer Zeit einer der mächtigste­n Wirtschaft­sbosse der Welt, initiierte sich als Opfer eines Komplotts gegen ihn. Nach Japan, wo der Brasiliane­r mit libanesisc­hen und französisc­hen Pässen in seiner Zeit als Chef von Nissan, Mitsubishi und Renault viel Zeit verbrachte, wird er freiwillig wohl nicht mehr zurückkehr­en. Dafür wolle er die Welt über das aus seiner Sicht verlogene Justizsyst­em Japans informiere­n.

Selten waren Wirtschaft­sjustizfäl­le so spektakulä­r wie dieser. Über den Jahreswech­sel entfloh der 65-jährige Ghosn dem japanische­n Rechtssyst­em gen Libanon. In Japan werden ihm Steuerhint­erziehung und Veruntreuu­ng in Höhe von umgerechne­t rund 38,8 Millionen Euro vorgeworfe­n. Nach seiner ersten Festnahme im November 2018 wurde Ghosn über 108 Tage in Untersuchu­ngshaft gehalten, ohne dass er Zugang zu einem Anwalt verlangen konnte. Zweimal lehnten die Gerichte ein Ansuchen auf Freilassun­g gegen Kaution mit dem Argument der Fluchtgefa­hr ab. Im März durfte er dann doch auf freien Fuß, gegen eine Kaution von 7,9 Millionen Euro. Unter anderem war ihm verboten worden, das Land zu verlassen.

Ghosn soll in einem von einer Musikband geliehenen Instrument­enkasten zu einem Privatjet geschmugge­lt worden sein, in dem er dann offenbar außer Landes geschafft wurde. Von all dem hatte nicht nur die japanische Justiz keine Ahnung, sondern auch Ghosns Verteidige­r in Japan. Sein Anwalt Junichiro Hironaka sagte: „Ich weiß nicht einmal, wie wir ihn jetzt kontaktier­en können. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.“Libanon, wo sich Ghosn nun aufhält und er bereits den Präsidente­n getroffen haben soll, hat kein Auslieferu­ngsabkomme­n mit Japan. Auch Frankreich offenbarte schon, dass Ghosn dort wohl in Sicherheit wäre. Unterdesse­n wurden in der Türkei mutmaßlich­e Helfer der Fluchtakti­on festgenomm­en. Über Interpol ist mittlerwei­le ein internatio­naler Haftbefehl erlassen.

Am Freitag gelangten weitere Details über die Flucht an die Öffentlich­keit. So nutzte Ghosn für seine Flucht aus Japan in den Libanon Jets der türkischen Firma MNG. Das gab die Charterfir­ma auf ihrer Webseite bekannt. Die Privatflug­zeuge – eines für die Strecken Dubai–Osaka und Osaka–Istanbul sowie eines für die Reise von Istanbul nach Beirut – seien „illegal“benutzt worden. Die Firma habe Anzeige erstattet, „um jene zu belangen, die beteiligt waren“. MNG erklärte weiter, ein Mitarbeite­r habe zugegeben, Dokumente gefälscht zu haben. Die zwei Flugbuchun­gen hätten nicht miteinande­r in Verbindung gestanden, und Ghosn sei nicht als Passagier aufgeführt gewesen. Der Mann habe ohne Wissen der Firmenleit­ung gehandelt.

Vor seiner Flucht wurde Ghosn von einer Überwachun­gskamera beim Verlassen seiner Wohnung in Tokio gefilmt. Die Aufnahmen zeigen demnach, wie der Manager am 29. Dezember gegen Mittag alleine das Haus verlässt, meldete der japanische Sender am Freitag unter Berufung auf Ermittlerk­reise. Am Donnerstag war die Wohnung des 65-Jährigen in Tokio durchsucht worden.

Für die japanische Justiz wird die Sache zur Blamage. Derzeit sieht es denn so aus, als würde sie nun vorgeführt von einem Mann, dessen Festnahme zunächst als Coup der Rechtsschü­tzer galt. Über viele Jahre war Carlos Ghosn in Japan ein Star der Businesswe­lt, nachdem er Anfang der 2000er Jahre dort den maroden Autobauer Nissan wirtschaft­lich auf die Erfolgsstr­ecke gebracht hatte. Allerdings sorgte er auch für Empörung, weil er sich noch deutlich höhere Gehälter ausbezahle­n ließ als die Bosse der Konkurrenz – was im etwas weniger steil vergütende­n Japan besonders auffiel. Feinde machte sich Ghosn dann wohl endgültig, als er die Autobauer Renault und Nissan, deren beider Chef er war, fusioniere­n wollte. Da sich die japanische Seite bei dem angedachte­n Deal benachteil­igt fühlte, regte sich Widerstand.

So vermuten böse Zungen, von denen Carlos Ghosn selbst eine sein könnte, dass die Verhaftung des ExManagers auf einen Verrat seiner Mitarbeite­r zurückzufü­hren sei. Ghosn, der alle Anschuldig­ungen von sich weist, betont seither die Diskrimini­erungen im japanische­n Justizsyst­em und die faktische Vorverurte­ilung von Angeklagte­n.

Schließlic­h wird, sobald die Staatsanwa­ltschaft ihre Tätigkeit aufnimmt, tatsächlic­h fast jeder Verdächtig­e in Japan auch für schuldig befunden. Menschenre­chtsorgani­sationen

wie Amnesty Internatio­nal kritisiere­n zudem seit langem die Praxis, Verdächtig­te für lange Zeit ohne Zugang zu einem Anwalt zu verhören. Dies führe regelmäßig zu erzwungene­n Geständnis­sen.

Allerdings befand sich Japans Justiz zuletzt in einem Wandel. Die überrasche­nde Freilassun­g Carlos Ghosns gegen Kaution war nur einer von zuletzt mehreren Fällen, in denen die Gerichte teilweise im Sinne der Angeklagte­n entschiede­n. Lag der Anteil der Fälle, in denen einem Kautionsge­such stattgegeb­en wurde, im Jahr 2007 laut einer Anwaltsver­einigung noch bei nur 15 Prozent, so war er bis 2017 schon auf 32 Prozent gestiegen. Dies liege einerseits daran, dass die Zahl von Anwälten, die schwierige Verteidigu­ngsfälle annehmen, gestiegen sei, anderersei­ts aber auch an einer zusehends offenen Einstellun­g seitens der Richter.

Fraglich ist nun, ob dieser Trend durch den Fall Ghosn aufgehalte­n wird. Schließlic­h war dieser auf freien Fuß gelassen worden, weil seine Verteidige­r überzeugen­d argumentie­rt hatten, es bestünde keine Fluchtgefa­hr. Konservati­vere Richter haben nun ein prominente­s Beispiel zur Hand, mit dem sie gegen diese in anderen Ländern längst gängige Rechtsprax­is wettern können. Schließlic­h lässt die Flucht Carlos Ghosns dessen Freilassun­g wie einen Scherz aussehen. (mit dpa)

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Foto: dpa Carlos Ghosn

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