Gleis 44 bespielt das „größte Wohnzimmer Ulms“
Szene Nach einem erfolgeichen und improvisierten Sommerprogramm im Biergarten Liederkranz starten die Macher
des Kultur-Klubs nun die „Gleisbar“: Unterhaltung für junge Menschen, mit Kunst, Konzerten und Debatten
Ulm Viele Künstler werden sich an den Sommer 2020 nur mit schmerzlichen Gefühlen erinnern. Corona verhagelte alle Spielpläne und Konzertkalender – und ganzen Existenzen Tausender Kreativer. Doch das Team des Gleis 44, dem Ulmer Klub für junge Kultur, steckte sich in dieser Zeit ein Ziel: „Wir wollten den Sommer retten“, sagt Samuel Rettig vom Gleis-Team. Das klingt trotzig und alles andere als bescheiden. Aber die jungen Erwachsenen, viele im Studentenalter, nutzten ihre Chance: Sie bewarben sich im Frühling darum, den Biergarten Liederkranz mit einem Kulturprogramm zu bespielen. Sie bekamen den Zuschlag – und blicken heute mit Stolz auf ihre Sommer-Bilanz. „Es war für uns ein überwältigender, einzigartiger Sommer“, sagt Rettig. „Trotz aller Sorgen, Regeln und Auflagen – es hatte den Reiz des Einmaligen.“
91 Veranstaltungen gingen ab Mai über die Bühne in der Friedrichsau. Mehr als 100 Künstler, Bands und Gruppen waren mit dabei, 60 Mitarbeiter und Ehrenamtliche vom Verein Indauna und von Gleis 44 arbeiteten für das Projekt. Laut der Bilanz des Vereins erlebten rund 24 000 Besucher im Liederkranz Kultur trotz Corona – von der Molière-Komödie „Der eingebildete Kranke“über kleine Rock-Konzerte bis zur Beethoven-Matinee unter freiem Himmel. Die Vögel in der Friedrichsau zwitscherten zur Klaviersonate.
„Wir haben, und das ist für uns die wichtigste Zahl, rund 35 000 Euro an Gagen an Künstler ausgezahlt. Darauf sind wir stolz“, sagt Rettig. Dazu zählten viele Künstler aus der Region, die unter der Kulturflaute leiden. Ein „riesiges Netzwerk“von Künstlern und Kulturschaffenden habe dem Biergarten zum Erfolg verholfen, sagt Rettig. Dazu zählt der Verein Indauna, der das Projekt mitgetragen hat, aber auch der Sender der Verein Kunstwerk und die Akademie für darstellende Kunst. Bunt gemischtes Programm, viel Improvisation, Teamarbeit – dieser Sommer war für Gleis 44 ein Gemeinschaftswerk. „Das hat ich mich oft wieder an unsere Gründungsphase erinnert“, sagt Rettig. Vor zweieinhalb Jahren hat er mit Freunden das Gleis 44 eröffnet.
Unterstützung erhielt das Gleis in diesem Jahr von den Stadtwerken, der Stadt Neu-Ulm und vom Land Baden-Württemberg. Ein „absolutes Glück“nennt Rettig die 40 000 Euro, die aus dem Fördertopf „Kunst auf Abstand“in das Gleis-Sommerprogramm geflossen sind. „Bedingung war, dass wir Breiten-, Sub- und Hochkultur fördern. Wir haben uns als Kultur-Bar und Erlebnisraum für junge Erwachsene beworben.“Mit dem Verein Indauna, bei dem Rettig nun auch im Vorstand mitwirkt, hofft Gleis 44 auf eine Fortsetzung der gemeinsamen Kulturarbeit – vielleicht im nächsten Sommer auch wieder im Liederkranz. Doch jetzt, nach kurzer Verschnaufpause, stellt das Gleis die Weichen für das Herbst- und Winterprogramm.
Die neu eröffnete „Gleisbar“in der Schillerstraße haben die Macher bestuhlt und mit Tischen ausgestattet, mit gemütlichen Sofas und alten Lampen. Ein Konzept mit Studentenbuden-Charme: „Wir haben fast ein Trödelhaus leer geräumt“, sagt
Rettig. „Wir haben nun quasi das größte Wohnzimmer Ulms.“Die Saison, die jetzt beginnt, nennt das Team um Rettig „Fifth Season“– die Fünfte Jahreszeit. Denn der Kulturund Barbetrieb soll in dieser Zeit möglich sein, auch unter besonderen Umständen, mit Vorsicht.
Kleine Konzerte sollen über die Bühne gehen. Ausstellungen mit Werken von Ulmer Künstlern plant das Gleis 44 von Dezember bis März in seinen Räumen. Das Team will aber auch Diskussionsrunden ermöglichen, wie sie das Gleis schon vor den Kommunalwahlen veranstaltet hatte. Dabei arbeiten die Macher mit Hochschul- und Unigruppen zusammen und mit den jungen Klima-Aktivisten von „Fridays for
Future“. Die Vorträge sollen abends starten und eine Chance bieten, sich nach der Debatte noch bei einem Bier zu unterhalten. Debatten, die die Zielgruppe des Gleis bewegen, Menschen von etwa 18 bis 35 Jahren.
Und Corona? „Wir sind aufgrund der aktuellen Lage schon besorgt“, sagt Rettig. „In Berlin gab es einen klugen Werbeslogan: Abstand halten, sonst ist deine Stammkneipe schneller dicht als du!“Und das soll auch für die Gleisbar gelten. „Die Security achtet auf die Einhaltung der Regeln, auch die Barkeeper und DJs sind darauf geeicht. Das klappt bislang besser, als man vermuten mag.“
Das Gleis stellt die Weichen für Herbst und Winter
Programm
Aktuelle Informationen unter www.facebook.com/gleis44.