Europa hat eine riesige Chance verpasst
Leitartikel Die Agrarreform der EU hätte ein großer Wurf sein können. Doch dazu
fehlte der Mut. Die mittelständischen Bauern müssen endlich gestärkt werden
Zu gerne würde man die Agrarreform als grüne Wende beschreiben, als Abkehr von Fehlern der Vergangenheit, als den Moment, den die Gemeinschaft genutzt hat, um aus einer Turbo-Landwirtschaft großer Konzerne auszusteigen und auf die regionale Bewirtschaftung der Flächen zu setzen. Tatsächlich wollte die Europäische Kommission einen Neuanfang: weniger Diktat aus Brüssel, mehr Verantwortung für die Vergabe der Gelder durch die Mitgliedstaaten und natürlich mehr grüne Investitionen für Äcker und Ställe. Doch die als Anreiz geplanten Mittel reichen dafür nicht. Wer Landwirte zu Mitwirkenden beim „Green Deal“, der „grünen Revolution“, machen will, wer sie für den Erhalt der Artenvielfalt, das Schonen von Ressourcen und eine Abkehr von Pflanzenschutzmitteln gewinnen möchte, muss sie ordentlich bezahlen, nicht abspeisen.
Das größte Problem liegt aber darin, dass sich die Agrarminister einmal mehr vor allem darauf versteift haben, die Direktbeihilfen zu erhalten, anstatt ein neues Grundprinzip einzuführen: Vorrang für die Landwirtschaft in der Region für die Region. Niemand wird den oft attackierten Agrarkonzernen vorwerfen können, ihren Betrieb so ausgerichtet zu haben, dass sie mehr Subventionen bekommen. Aber um das zu korrigieren, wäre selbst eine Deckelung der Zuschüsse nur ein unvollkommenes Mittel. Tatsächlich braucht die Gemeinschaft eine neue landwirtschaftliche Struktur, die die kleinen und mittelständischen Höfe stärkt – was übrigens nicht zwingend bedeutet, den Großen das Wasser abzugraben. Aber regionale Produktion und vor allem auch Vermarktung entlasten die Umwelt spürbar. Es ist unnötig, Salat quer durch Europa zu fahren. Der Verbraucher ist dabei eine wichtige Größe. Denn die Handelsketten reagieren auf seine Nachfrage.
Von den Agrarministern hätte man sich deshalb eine Wende gewünscht, die auf allen Ebenen der Agrarpolitik vollzogen wird – vom Anbau und der Tierhaltung über die Lieferketten bis hin zum Bewusstsein der Verbraucher durch Kaufanreize. „Farm to Fork“, vom Bauernhof auf die Gabel, sollte das sein. Aber das, was nun vorliegt, ist mehr eine leere Hülse als die erhoffte Revolution, die bäuerliche Arbeit angemessen honoriert und die Landwirtschaft zu einem festen Bestandteil der Umweltpolitik macht. Diese Ansätze gibt es. Eine immer größere Zahl von Bauern macht auch mit. Die Mitgliedstaaten hätten diese Entwicklung mutiger und entschlossener unterstützen können und müssen.
Hinzu kommt, dass der konkrete Beitrag des Agrarbereiches für die Ziele des „Green Deals“noch nicht abschätzbar ist. Auf dem Papier stehen Schlagworte wie Sicherung der Lebensmittelqualität, Artenvielfalt und Klimaschutz.
So richtig und überfällig es war, dass die EU-Kommission den Mitgliedstaaten mehr Verantwortung überlassen will, so groß ist auch das Risiko einer Zersplitterung – trotz einer entsprechenden Klausel im Ministerpapier. Wenn die EUBehörde nicht genau aufpasst, wird die Gemeinschaft bald zerfallen in jene mit hohem ökologischen Ehrgeiz und jene, die nur das Nötigste erfüllen wollen. Das führt unterm Strich genau zu einem Ausbau jener Kontrollbürokratie, die man doch eigentlich mit dieser Reform zurückfahren wollte.
Die Minister und Parlamentarier können ihre Verantwortung für die politischen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft nicht abschieben. Die Erwartungen sind hoch, der jetzige Kompromiss ist noch zu wenig konkret, um von einem echten Systemwechsel sprechen zu können. Die eigentliche Arbeit an der Agrarwende beginnt erst noch.
Regionale Produktion entlastet die Umwelt