Nicht weniger als eine Revolution
Angela Merkel ist nicht bekannt dafür, ihre Diagnosen in geschmeidige Worthülsen zu verpacken, um den Zuhörern das Schlucken zu erleichtern. Die Sätze der Kanzlerin sind oft spröde und sperrig, was genau sie meint, lässt sich manchmal selbst mit der zweiten Nachfrage nicht so genau klären. In dieser Woche hat Merkel wieder so einen Satz gesagt. Es war mehr eine Andeutung und doch irgendwie auch der Vorgriff auf eine mögliche Revolution. „Die Länder müssen nachlegen, sonst muss ich überlegen, ob wir auch Wege finden.“Eine harmlose Drohung, wie sie Eltern aussprechen, wenn die Kinder nicht gehorchen wollen? Nicht wirklich. Alle Ministerpräsidenten verstanden sofort: Hier geht es um Macht, um Zuständigkeiten. Merkel arbeitet sich förmlich ab an der Corona-politik der Bundesländer, an einem politischen Flickenteppich, der zu einer echten Stolperfalle geworden ist in dieser Pandemie. Kompetenzgerangel und Haftungsfragen und träge Entscheidungsprozesse – das Virus hat den Staat in eine tiefe Krise gestürzt. Und es nährt eine Erkenntnis: Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um nicht nur über die Fußnoten des Infektionsschutzgesetzes zu sprechen – sondern darüber, wie dieses Land künftig geführt werden soll.
Der Chef des Beamtenbunds, Ulrich Silberbach, sagt ohne große Umschweife: „Wir sehen gerade auf dramatische Weise: Der deutsche Staat kann keine Pandemie.“Die Rufe nach neuen Regeln, ja vielleicht sogar nach so etwas wie einem Staatsumbau werden immer lauter. Womöglich wohnt dieser Krise also sogar die Chance eines Neuanfangs inne. Thomas de Maizière ist ein Politiker, der schon viele Probleme managen musste. Er war Chef des Bundeskanzleramtes, Verteidigungsminister, Innenminister – es sind die härtesten Posten, die eine Regierung zu vergeben hat. Mal war es eine Terrorwelle, die Deutschland und Europa überzog. Mal waren es zehntausende Flüchtlinge, die an den Grenzzäunen der EU rüttelten. Der 67-Jährige ist gestählt, gilt als Vertreter preußischer Tugenden, Hysterie ist ihm ohnehin fremd. Doch auch er kommt zu dem Schluss: „Das sollte die letzte Krise sein, die uns so unvorbereitet erwischt hat.“De Maizière fordert deshalb nicht weniger als eine Staatsreform, nicht jetzt, mitten in der Pandemie, aber spätestens dann, wenn sie bezwungen ist. Es ist so etwas wie sein Herzensthema, seit längerem schon spricht er darüber. Doch selten war es so aktuell wie in diesem Moment, in dem ein echter Ermüdungsbruch zwischen Politik und Gesellschaft droht. „Wir müssen uns doch fragen: Was lernen wir aus Corona? Und das gilt nicht nur für eine mögliche weitere Pandemie, sondern für die Bewältigung von Krisen insgeKrise Die Pandemie hat die strukturellen Probleme der Republik gnadenlos offengelegt. Ex-innenminister
Thomas de Maizière fordert grundlegende Reformen. Wie diese aussehen könnten
/ Von Margit Hufnagel gedroschen es klingt: Krisen sind auch Chancen. Und sie schaffen Druck für Neues. In der Flüchtlingskrise war es das Datenaustauschverbesserungsgesetz – ein Wortungetüm, natürlich, aber immens wichtig: Es soll sicherstellen, dass Migranten nicht in mehreren Städten gleichzeitig registriert werden. In der Terrorkrise wurde der Datenaustausch zwischen den europäischen Ländern vorangetrieben. Auch die Covid-krise könnte am Ende für etwas gut sein.
Rückendeckung (zumindest in Teilen) erhält der CDU-MANN von einer Partei, die gerne Mitglied der nächsten Regierung wäre – der FDP. „Die Pandemie hat viele Schwächen in unserem Land schonungslos aufgedeckt“, sagt Parteichef Christian Lindner. Der 42-Jährige ist einer der wortgewaltigsten Kritiker der Kanzlerin und ihrer Corona-politik. Entsprechend lang ist seine Mängel-liste. Und entsprechend groß der Wunsch, es anders zu machen. „Erdrückende Bürokratie hat schnelle und pragmatische Lösungen verhindert und bei den Wirtschaftshilfen etwa konkret Millionen von Existenzen gefährdet“, betont Lindner. Er meint damit den quälend langsamen Auszahlungsprozess rund um die Novemberhilfen, die tatsächlich erst im Januar bei vielen Unternehmern ankamen. Eine slapstickhafte Pointe, über die kaum jemand lachen konnte. „Der Mythos, wir Deutsche wären gut im Organisieren, wurde spätestens durch die verpatzte Impfkampagne widerlegt“, sagt er. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes sei massiv zurückgegangen. Auch er fordert: „Hier müssen wir nach der Pandemie den Schalter umlegen.“
Für Lindner heißt das: Die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen der staatlichen Struktur müsse klarer geregelt werden. „In der Pandemie erleben wir ein kleinteiliges Hickhack zwischen Kommunen, Ländern, Bund und der EU“, sagt er. Allerdings glaubt er deshalb noch längst nicht, dass es die Bundesregierung automatisch besser machen würde. Nur eine Umverteilung? Das ist der FDP zu wenig. Statt nur Verantwortung an sich zu ziehen, solle der Staat auch Verantwortung abgeben – an jene, die agiler sind. „Der Staat wollte in der Krise vieles regeln – hat aber selbst in den Bereichen versagt, in denen er originär zuständig wäre: Aldi konnte schneller Corona-selbsttests organisieren als das sagt de Maizière. „Das sollten wir uns vornehmen.“
Sein Vorschlag: Sobald im Herbst eine neue Regierung im Amt ist, solle eine große Staatsreform verabredet werden, die die Kompetenz des Bundes stärkt. Einer der wichtigsten Punkte ist dabei ein Katastrophenschutzgesetz des Bundes – bislang hat jedes Bundesland eine eigene Verordnung. „Dass ein so großes Land wie Deutschland keine nationale Katastrophenschutzregelung hat, das ist weltweit vermutlich einmalig – und das sollte nicht so bleiben“, sagt der Cdu-politiker. Selbst ebenfalls föderal organisierte Länder wie die USA gehen diesen Weg schon längst. Dort kümmert sich ein „White House Covid-19 Response Team“im Weißen Haus, also eine zentrale Stabsstelle, um die Koordination. Geleitet wird Gesundheitsministerium“, sagt Lindner. Das müsse ein Weckruf sein – und längst nicht der einzige. Die Faxe, mit deren Hilfe Gesundheitsämter Daten zu Corona-infizierten übermittelten, sind längst zum Sinnbild veralteter Technik in deutschen Amtsstuben geworden. „Der Staat muss für sich nicht immer neue Aufgabengebiete erschließen, sondern sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren: Gesundheitsversorgung, Bildung, Sicherheit, die Bereitstellung moderner Infrastruktur“, betont Lindner. In anderen Bereichen könne er sich dagegen zurückhalten und mehr Raum für Eigenverantwortung und Unternehmergeist lassen.
Und was ist mit dem Föderalismus? Wird es dem mit der FDP an den Kragen gehen? „Der Föderalismus ist ein Gewinn, wenn es darum geht, regional mit bundesweiten Durchschnitt. „Das ist gut“, sagt de Maizière. Aber wenn es irgendwo gar nicht laufe, brauche der Bund die Möglichkeit, dazwischenzugehen. Ähnlich wie ein Generalbundesanwalt, der bei staatsschutzrelevanten Straftaten die Ermittlungen an sich ziehen kann. Es gibt inzwischen dutzende Beispiele dafür. Sie spielen an Schulen, in Impfzentren, in Behörden. „Nehmen wir das Testen: Herr Spahn sagt, ab nächster Woche kann man sich testen lassen. Die Länder sagen, wir wissen von nichts. Die Kommunen sagen, wir brauchen mehr verlässliche Informationen“, erklärt de Maizière. Das verunsichere die Bevölkerung. „Dabei ist niemand so richtig schuld daran – es ist die Struktur, die das Problem verursacht.“Ein anderes Beispiel: Seit einem Jahr meldet das Robert-koch-institut montags nur ungefähre Infektionsstatistiken, weil viele Gesundheitsämter über das Wochenende ihre Zahlen nicht weitergeben – und das, obwohl an den Werten politische Entscheidungen und damit menschliche Schicksale hängen. „Das bedeutet nicht, dass der Bund künftig die Gesundheitsämter betreiben sollte, aber es bedeutet, dass alle angewiesen werden können, dass sie eine Meldung abzugeben haben“, sagt de Maizière. „Das ist notwendiges Krisenmanagement.“Es mache zudem schlicht keinen Sinn, dass sich jedes Bundesland für sich mit Themen beschäftige, die eine übergeordnete Stelle effizienter regeln könne.
Nötig wäre für eine solch umfassende Reform, wie Thomas de Maizière sie vorschlägt, eine Änderung des Grundgesetzes – eine hohe Hürde in Deutschland. Aber keine, die nicht überwunden werden kann. Um dorthin zu gelangen, müsste eine unabhängige Gruppe zusammenkommen, in der mit praktischen Erfahrungen vor Ort und ohne parteipolitische Eifersüchteleien gearbeitet wird. „Mit einer Vorwurfshaltung darf man solch ein Projekt nicht beginnen“, warnt de Maizière. Er kennt die Empfindlichkeiten, die Rivalitäten. Ob es also die nötige Unterstützung aus den Ländern für eine staatliche Neuaufstellung gibt? Es gibt allenfalls eine zarte Hoffnung. Aber mehr eben auch nicht. Markus Söder deutet zwar grundsätzliche Zustimmung zu Merkels Kritik an, doch würde er im Zweifel wirklich ausgerechnet von Berlin Anweisungen annehmen? Kein Ministerpräsident lässt sich gerne reinregieren. Doch so absamt“, „Das sollte die letzte Krise sein, die uns so unvorbereitet erwischt hat.“ „Die Pandemie hat viele Schwächen in unserem Land schonungslos aufgedeckt.“
Thomas de Maizière, früherer Innenminister
Christian Lindner, Fdpvorsitzender die Gruppe vom Chef-corona-berater des Präsidenten, Jeffrey Zients. Neben ihm, seinem Stellvertreter und dem Virologen Anthony Fauci gehören dem Team Vertreter von Gesundheitsbehörden, Wissenschaft, Militär, Datenexperten und Impfexperten an. Zusammen mit der Direktorin der Seuchenbehörde CDC informieren sie mehrmals in der Woche in Pressekonferenzen über die aktuelle Situation. Das würde auch Deutschland helfen: „Der Bund muss die Zuständigkeit für überregionale Katastrophen bekommen – es muss gar nicht die alleinige sein“, sagt de Maizière. Aber im Moment sei es so, dass Kommunen und das Land zuständig sind und der Bund außen vor. Unverständlich, findet er: „Eine Krisenvorsorge, eine Pandemievorsorge, eine Bevorratungsvorsorge, ein großes Lagezentrum, in dem Bund, Länder und Kommunen täglich gemeinsam arbeiten: Das muss doch bundesweit koordiniert werden.“
De Maizière will keineswegs den Föderalismus abschaffen. Deutschland habe engagierte Landes- und Kommunalpolitiker, die mit regionalen Modellprojekten Wege aus der Krise suchen. Tübingen ist so ein Fall, auch Rostock – in beiden Städten sind die Corona-zahlen aufgrund kreativer Projekte und eigenverantwortlichen Handelns deutlich niedriger als im Lockerungen oder Verschärfungen auf das Infektionsgeschehen vor Ort zu reagieren“, betont Christian Lindner. „An anderen Stellen war er eine Schwäche – über die Unterstützung durch die Bundeswehr in Pflegeeinrichtungen oder bei der Kontaktnachverfolgungen haben einzelne Landräte und nicht die Bundesregierung entschieden.“Das zeige: Es gehe nicht um Föderalismus ja oder nein. Es gehe darum, den Föderalismus sinnvoll auszugestalten. Und das nicht nur mit Blick auf die aktuelle Pandemie. In vielen Bereichen hätten sich die Herausforderungen in den letzten Jahrzehnten nämlich grundsätzlich verändert, längst bevor die Defizite von einem Virus gnadenlos offengelegt wurden. In der Bildung etwa würden nicht mehr Bayern und Bremen, sondern Deutschland mit den USA und China konkurrieren. „Darauf müssen wir auch beim Verwaltungswesen reagieren“, sagt der FDP-CHEF. „In Bildungs- und Sicherheitsfragen etwa ist das Klein-klein von 16 verschiedenen Systemen überholt.“Es werde Aufgabe für die nächste Wahlperiode des Bundestages sein, die föderale Struktur neu zu gestalten.
Gut möglich, dass Covid dann nur noch ein finsteres Gespenst aus dem Jenseits sein wird. Doch Thomas de Maizière ist sich sicher, dass die Corona-krise längst